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Die Bestimmtheit des Schönen.
sonderung des Schönen von der realen Welt sind die Vorhöfe und
Vorhallen der Tempel und Kirchen, die Postamente der Statüen, die
Rahmen der Gemälde, die Trennung der Bühne von dem Zuschauer-
raum hervorgegangen. Wenn der französische Hof unter Ludwig XIV.
seinen Platz auf der Bühne nahm, so verlor er selbst am meisten dabei.
2. Gegenüber den Werken aus sinnlichem Material zeigt das
dichterische Kunstwerk eine geringere Bestimmtheit, welche bei der
begrifflichen Natur der Sprach Vorstellungen, aus denen es gebildet
wird, unvermeidlich ist. Allerdings soll das dichterische Bild in der
Seele des Dichters so. bestimmt, wie das malerische sein, allein dies
hilft dem Dritten nichts. Soll es in diesem die gleiche Bestimmtheit
erlangen, so muss er den begrifflichen Vorstellungen, welche die Sprache
in ihm erweckt, die letzte sinnliche Bestimmtheit aus sich selbst hin¬
zufügen. Dies wird indess nur in den seltensten Fällen vollständig
geschehen. Gewöhnlich erfolgt das Lesen oder Vorlesen so schnell,
dass keine genügende Zeit bleibt, um das damit gebotene dichterische
Bild zur vollen Bestimmtheit in der eignen Phantasie auszubilden. So
ergänzt man es wohl in der Hauptsache, in der Fahrt über den See,
in dem Dolchstich des Mörders, in dem Schwur des Geliebten; allein
das Nebensächliche, die Gestalt der Personen, die Tageszeit, die Um¬
gebung bleibt unausgebildet; man lässt dies bei Seite und eilt weiter
zu neuen Bildern der Dichtung.
3. Dennoch hängt von dem Grade dieser Ergänzung die Wir¬
kung und selbst die Schönheit der Dichtung für den Leser ab. Je
flüchtiger das Lesen erfolgt, je weniger kann das gebotene Material
zur Bestimmtheit und Vollständigkeit in der Phantasie ergänzt werden ;
und doch wird erst damit die volle Schönheit erreicht. Um diesen Mangel
zu ersetzen, hat man neuerlich die malerischen Illustrationen zu Hülfe
genommen ; allein sie bleiben ein unzureichender Behelf Im Uebrigen
wird, je reicher Gedächtniss und Phantasie des Lesers erfüllt ist,
desto vollständiger diese Ergänzung sich vollziehen. Deshalb erhöht
eine Reise nach Italien, und Griechenland nicht blos das Verständnis
sondern auch den Genuss der alten Dichtungen.
4. Die Geistigkeit und Unbestimmtheit des dichterischen Mate¬
rials bietet dem Künstler besondere Schwierigkeiten, aber auch eigen-
thümliche Vortheile. Zu jenen gehört, dass er die Beschreibung des
Gleichzeitigen nicht überladen darf. Schöne Gegenden, malerische
Trachten, selbst eine schöne Frau darf der Dichter nicht mit der Ge¬
nauigkeit zu schildern unternehmen, wie es der Maler thut. Sein
Material entbehrt dazu der Bestimmtheit; je mehr er es häuft, desto
mehr verfliesst das Einzelne in einander. Die grossen Dichter be-