Volltext: Aesthetik auf realistischer Grundlage. Band 1 (1)

Der Mensch als seelenvolles Beale. 
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sie seine klare Darstellung erhält, wird die höhere Einheit der Handlung, 
wie sie in der Iliade besteht, nicht vermisst. Wenn die Nibelungen 
unter den Homerischen Dichtungen stehen, so ist es nicht deshalb, 
weil sie in der Mannichfaltigkeit der äussern Begebenheiten, Helden- 
thaten und Kriegszüge zurückständen, sondern weil die Zeichnung und 
die Mannichfaltigkeit der Charaktere durch dieses Aeussere nicht in 
der Vollendung erreicht ist, wie bei Homer. An äusserm Stoff über¬ 
treffen die Nibelungen sogar die Iliade ; aber an Reichthum und Deut¬ 
lichkeit der Charaktere stehen sie ihr nach. Ebenso wird die Breite 
der klassischen englischen Romane nur erträglich, weil sie einer meister¬ 
haften Schilderung der Charaktere dient. Tristram Shandy wäre un- 
lesbar, wenn nicht die Charakterzeichnung für den gänzlichen Mangel 
einer einheitlichen Handlung und für die unaufhörlichen Abschwei¬ 
fungen entschädigte. 
57. Hiermit ist das Seelenvolle des Menschen erschöpft. Die 
Bedeutung des Realen für die ideale Welt des Schönen zeigt sich hier 
in vollem Maasse. Die Kunst kann in ihrem Inhalte, in dem See¬ 
lischen nicht über das Reale hinaus. Sie kann weder neue elemen¬ 
tare Gefühle erfinden, noch darf sie die bestimmtem Formen und Ver¬ 
bindungen vernachlässigen, in denen die elementaren Empfindungen 
sich zu Affekten, Leidenschaften und Charakteren gestalten. Der 
Künstler mag in der Michung dieser Elemente eine gewisse Freiheit 
üben: allein in der Art dieser Elemente und in den Formen ihrer 
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Verb indüng bleibt er streng an die reale Welt gebunden, und selbst 
von jener Freiheit der Mischung wird der Künstler nur mit grosser 
Vorsicht Gebrauch machen, da dieser geistige Theil des Schönen so 
zarter und empfindlicher Natur ist, dass ohne reale Vorbilder Irr- 
thümer und Abwege kaum zu vermeiden sind. Die grossen Dichter 
sind nicht dadurch gross, dass sie durchaus neue, originale Charak¬ 
tere geschaffen haben, sondern dadurch, dass sie die realen Charak¬ 
tere, welche die Geschichte und das Leben ihnen bot, in vollendeter 
Weise zur Darstellung gebracht haben. 
D. Die Natur als seelenvolles Reale. 
1. Unter Natur werden hier im Gegensatz zu dem Menschen 
die Thiere, die Pflanzen und die unorganischen Stoffe und Bildungen 
verstanden, von denen die Wahrnehmung Kunde giebt. Bei den 
Thier en wird allgemein eine Seele angenommen, welche, wie bei 
den Menschen, mit ihrem Körper verbunden, die Einheit des Thieres
	        
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