Die Lustgefühle.
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45. Der letzte Umstand, welcher die Empfänglichkeit bestimmt,
ist die Ausgleichung. Es ist damit ein zweifaches bezeichnet. Ein¬
mal wächst die Lust selbst nicht in demselben Verhältnisse mit der
Ursache derselben. Fechner hat behauptet, dass, wenn die Ursache
in geometrischer Progression wächst, die Lust nur in arithmetischer
oder wie die Logarithmen jener wachse. Wenn dies Gesetz auch
nicht in dieser scharfen Bestimmtheit bestehen mag, und wenn es
auch nicht ftlr alle Arten der Lust erwiesen werden kann, so bestä¬
tigt doch im Allgemeinen die Beobachtung dasselbe. Der zweite Thaler,
den man in die Sparkasse einlegt, macht mehr Freude als später der
hundertste, wenn man schon 99 Thaler darin hat. Der erste Orden
macht glücklicher, als der zweite. Das Kommando über eine Com¬
pagnie macht dem jungen Offizier mehr Freude, als das spätere über
ein ganzes Regiment.
46. Sodann liegt in dieser Ausgleichung, dass mit jedem Steigen
einer Lust die Empfänglichkeit für die Lust'überhaupt abnimmt, dagegen
die für den Schmerz steigt, und umgekehrt. Eine aufmerksame Be¬
obachtung der reichen und sogenannten glücklichen Menschen lässt
dies leicht erkennen. Reiche Leute, Alle, denen es gut geht, sind
für die Vermehrung ihrer Glücksgüter und der Genüsse des Lehens
sehr unempfindlich; dagegen verletzt sie schon eine kleine Ursache
des Schmerzes tief. Der Arme, der Bedrängte empfindet dagegen solche
Kleinigkeiten gar nicht, wohl aber ist er sehr empfänglich für jede,
auch die kleinste Ursache der Lust. Er empfindet dasjenige in einem
hohen Maasse von Lust, was der Glückliche kaum bemerkt.
47. Diese beiden Gesetze, das der Ausgleichung und das
der Abstumpfung, sind für die allgemeine Gleichheit des Glückes
unter den Menschen von der höchsten Bedeutung. Die Wissenschaft
hat bisher diese Bedeutung viel zu wenig beachtet. Aller Fortschritt
in der Gestaltung und Verbesserung der Staats- und Gesellschafts-
Formen ist seit Anbeginn wesentlich auf die allgemeine Gleichheit fier
Menschen gerichtet. Diese Gleichheit ist aber nur dann eine wahre,
wenn sie eine Gleichheit des Glückes der Einzelnen enthält; denn
das Glück, die möglichst hohe und dauernde Summe von Lust, ist
das letzte Ziel, dem Alle nachstrehen.
48. Alles, was der sociale Fortschritt hierfür zur Zeit er¬
strebt, ist aber nur eine Gleichheit in den Ursachen des Glückes,
eine möglichst gleiche Vertheilung der Güter des Lebens. Die Gleich¬
heit in diesem Punkte wird aber immer eine Unmöglichkeit bleiben.
Die nicht zu hindernde Ungleichheit in den natürlichen, körperlichen
und geistigen Anlagen und Kräften der einzelnen Menschen würde