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KARL GROOS.
trachtung einer straff aufgerichteten Figur wie des Apoxyomenos, so¬
lange wir uns zusammengebeugt und in lässiger Haltung vor ihr be¬
finden. In solchen Fällen scheint die Statue unserem Auge auszu¬
weichen und wir können uns ihre Form nicht recht lebendig machen
(realise)] wenn wir dagegen unsere eigene Muskulatur der Anspannung
oder Lässigkeit in der Haltung der Statue nachahmend anpassen, so
wird uns das Kunstwerk sofort zur Realität.«
Wie ich schon andeutete, ist es in Hinsicht auf die Erklärung des
Emotionalen nicht nötig, das Hauptgewicht auf die Gefühlswerte zu
legen, die ohne weiteres das Eigentum solcher imitatorischen Muskel¬
einstellungen sein mögen1). Es ist wahrscheinlich für viele noch wich¬
tiger, daß diese Einstellungen das Mittel bilden, um die Erregung
weiter ins Innere zu leiten, bis sie, besonders im Gebiete der Visceral¬
empfindungen, diejenigen Emotionen hervorruft, die schon früher mit
ähnlichen Bewegungen der Glieder, des Rumpfes, des Gesichtes ver¬
bunden waren. Gerade darum werden auch bloße Andeutungen
und Analogien der wirklich vollzogenen äußeren Handlung genügen
können. Sie lösen den tieferliegenden emotionalen Prozeß aus, wie
eine schwache Muskelspannung im Schlaf die lebhaftesten
Traumemotionen hervorrufen kann — eine Erscheinung, auf die
schon Robert Vischer in seiner Schrift über das »optische Form¬
gefühl« vergleichend hingewiesen hat.
Ich sagte: bloße Andeutungen und Analogien werden genügen
können. Von hier aus gelangen wir zu zwei anderen Mitteln der
kinästhetischen Nacherzeugung, von denen das erste an dieser Stelle
nicht eingehender behandelt werden soll. Für die sichtbaren Objekte
scheint nämlich nach vielen Zeugnissen die nachahmende Augen¬
bewegung sehr wesentliche Dienste leisten zu können. Man darf
allerdings nicht annehmen, daß die Drehungen des Augapfels dem
Einzelverlauf der gesehenen Form in genügender Weise zu folgen
vermöchten — obwohl wir sehr leicht den deutlichen Eindruck er¬
halten, als ob das der Fall sei. Ich habe in meinem Buch über den
ästhetischen Genuß zu zeigen versucht, daß hier wahrscheinlich repro¬
duktive Faktoren aus dem Gebiete des Tastsinns das Sinnlich-Erlebte
zu jenem Eindruck ergänzen. Das Auge selbst »wischt« mit den ihm
angemessenen Bewegungen über die Formen des Gegenstandes hin
und braucht dabei den Konturen so wenig sklavisch zu folgen, wie
etwa ein Zimmermädchen, das eine achteckige Tischplatte abwischt,
darum genötigt wäre, eine achteckige Armbewegung auszuführen.
Aber die in der Kindheit erworbene enge Verbindung zwischen der
!) Gerade hierauf beziehen sich viele der kritischen Bemerkungen von Lipps.