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Der Fall Wagner.
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. . . . . „Ein Stuttgarter Nervenarzt, dem ich in tiefer Betrübnis meinen
Fall vortrug, brach aus: ,,Nur hellauf, wenn die 90 Prozent von Jünglingen
und Jungfrauen sich solche Skrupel machten wie Sie!“ Vielleicht übertrieb
er, wie die Ärzte gewohnheitsmäßig ihre Patienten mit dem Hinweis auf
andere trösten wollen. Immerhin sind nach meinen eigenen Beobachtungen
so viele dieser Seuche verfallen, daß ich mich nur wundern muß, daß man
davon nicht ebensoviel redet als vom Alkohol. Das weiße Kreuz ist
viel nötiger als das blaue. Eben der Umstand, daß man nicht gerne
davon redet, deutet auf ein schlechtes Gewissen der Masse. Denn ein trink¬
fester Mann zu sein, gilt bekanntlich für keine Schande, aber so einer!
Mir selbst hats niemand direkt gesagt — man wollte mich wahr¬
scheinlich nicht beschämen, — aber Anspielungen bekam ich hin
und wieder zu hören. Einmal stand an meinem Spiegel in stattlicher
Rundschrift: »Sumpfhuhn wache auf'/ Das ärgerte mich über die Maßen;
wenn’s nur auch genützt hätte“..... „Ich hätte doch selbst so gescheit
sein sollen, um einzusehen, wohin das führt. Körper und Geist kamen doch
augenscheinlich herunter. Nun kann ich auch versichern, daß ich mit großer
Willenskraft — und außer dem Onanisten weiß nur noch der Morphinist um
solche Willenskraft —• wochenlang, monatelang, ja vierteljahrelang mich
bezwungen habe. Aber ich habe deshalb nie eine Besserung meines körper¬
lichen Zustandes gefühlt. Heute weiß ich, woran die Schuld davon lag:
Scham und Gram erhielten mich in beständiger Depression, ich hatte schlie߬
lich ganz den Glauben verloren, je wieder zu gesunden. Die Natur, redete
ich mir vor, richtet den erbarmungslos zugrunde, der sie an dieser ihrer
empfindlichsten Stelle verletzt. Ihr Opfer der Selbstbefleckung, ihr Elen¬
desten unter der Sonne, hört meine Rede. Lauft nicht zum Arzt, fragt nicht
Geldjäger à la Re tau! Nr. 1. Geht hin und sündiget nicht mehr. Ists Dir
zu schwer, so schau Dich um nach einem Mensch, und ihr Menscher (pardon),
schaut euch um nach einem Kerle. So Ihr Geld habt, tragts ruhig ins Huren¬
haus, bis Ihr übersatt seid. Unsittlichkeit in der Potenz? Herrgott, was
ist denn unsittlicher, eine Hure oder so ein —? Warum hat mich die Vor¬
sehung nicht im liederlichen Orient niedergesetzt? Da läge ich jetzt gott¬
gläubig auf dem Diwan und ließe mir von meinen Weibern und Kebsen den
Buckel kratzen. Statt dessen wandere ich jetzt gramzerfressen durch ein¬
same Wälder und halte waschlappige Ciceroreden über meine katilinarische
Verworfenheit“ .... ,,In der Tat hängen im letzten Grunde alle
meine kleinen und großen Verrücktheiten, alle meine Mißerfolge
und alle Leiden meines Lebens mit geschlechtlichen Abnormi¬
täten (,,Verbrechen“) und der sie begleitenden Niedergedrücktheit
zusammen. So paradox es klingen mag, selbst mein Stolz und
meine Eitelkeit sind dadurch eher gesteigert als vermindert
worden.“
Aus dieser Schilderung Wagners vom Jahre 1909 halten wir
als besonders wichtig die Tatsache fest, daß die Onanie, der er im
Jahre 1892 im Alter von 18 Jahren verfiel, und die er erst viel später
ganz überwand, in ihm schwere Selbstvorwürfe und Skrupel auslöste