Der Fall Wagner.
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Ich: Hat Wagner auch manchmal gemütlich schwäbisch gesprochen?
Ho.: Ganz so nicht, er ist immer ein bischen hochdeutsch gewesen.
Ich: Hat Wagner Züge von Grausamkeit geboten?
Wagner: Du wirst, Ho., nie an mir bemerkt haben, daß ich eine grau¬
same Natur bin.
Ho. bestätigt dies durchaus. Wagner habe keine Taube umbringen
wollen und können. Wenn man sie ihm nicht geschlachtet habe, hätte er sie
lieber fliegen lassen, als sie behalten.
Ich: Erschien Ihnen Wagner als Egoist?
Ho.: Das kann ich nicht sagen; mir gegenüber in keiner Weise.
Im Lauf der weiteren Unterredung, deren Detail weniger wichtig ist,
wiederholt Wagner, zu Ho. gewandt: Ich habe schon vorher angenommen,
daß Ihr es wüßtet und seit jenem Tage habe ich es ganz bestimmt ange¬
nommen. Ich habe droben schreckliche Stunden erlebt, schreckliche Tage.
Ho. wiederholt: Die Radelstetter und Scharenstetter sagen, sie können
es nicht begreifen.
Wagner, mit Tränen in den Augen: Ich kann’s auch nicht begreifen.
(Dabei macht er eine ratlose Bewegung mit den Armen und weint.) Dann,
noch einmal auf die Verfolgungen zurückkommend, sagt Wagner: Ich habe
gedacht, es sei hauptsächlich durch die Schäfer hinauf getragen worden.
(Dann voller Bitterkeit) : Wie perfid mit mir umgegangen wird ! Da muß ich
jetzt selbst das Werkzeug gewesen sein, daß meine sittlichen Verfehlungen
herauskommen !
Der Abschied der beiden Lehrer voneinander stimmte Wagner
sehr weich; er dankte Ho., Tränen in den Augen; dann schritt er,
sich aufraffend, langsam, aber in aufrechter Haltung wieder in
sein Zimmer hinüber. Später wurde er sehr nachdenklich und
bedrückt gefunden. Er hatte sich auf sein Bett geworfen und lange
geweint. Er erwiderte mir auf meine Frage, ob er jetzt davon
überzeugt sei, daß seine Freunde und überhaupt die Radelstetter
von seinen Delikten keine Kenntnis hatten: Ja, jetztseierüber-
zeugt; aber das Schicksal habe furchtbar mit ihm gespielt.
Tags darauf gab er mir an, er habe eine schlechte Nacht gehabt.
Er war erst um 3 Uhr morgens eingeschlafen. Im Verlaufe des
Tages weinte er eine Zeitlang. Immer schwerer wurde es ihm
die entschlossene und selbstsichere Haltung zu bewahren. Und
meine Frage, ob es sich vielleicht nicht mit Mühlhausen ebenso
verhalten könnte, wie mit Radelstetten, erfuhr nicht mehr die
kategorische Verneinung wie früher. Als ich ihm in Erinnerung
brachte, daß Ho. von seinem Wahn gesprochen habe, sagte er
scheu :
,,Wahn nennt man vieles. Ich nenne das Irrtum.“