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Der Fall Wagner.
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Faßt Euch und bedenkt, daß es noch viel schrecklicher gewesen wäre,
wenn ich mich allein davongemacht hätte. Macht Euch nicht den nahe¬
liegenden, aber falschen Rückschluß, als ob es Anna bei mir schlecht gehabt
hätte. Ich ließ mich gerne bedienen, aber sie hat es eben so gerne getan.
M. weiß ja, wie es bei uns zugeht.
Die Kinder habe ich nicht gewollt, kein einziges habe ich gewollt.
Wenn ich daran denke, daß es ihnen einmal nur halb so schlimm gehen
könnte, wie mir, finde ich sie tot am besten versorgt und aufgehoben.
Ich will, daß die Kinder auf der Prag verbrannt werden. Auch für
Anna würde ich Feuerbestattung vorschlagen, aber es gruselte ihr, wenn
ich ihr schon davon redete.
Laßt Euch, ich bitte nochmals, die Sache nicht weiter anfechten. So¬
weit es in meinem Vermögen stand, habe ich alles zum Besten gekehrt.
Ich hinterlasse alles in guter Ordnung. Alles Geld und aller Hausrat
gehört Euch als den Erben Annas mit Ausnahme der Summe, die eventuell
zu meiner eigenen Bestattung nötig ist. Die paar Habseligkeiten, die mein
Eigentum sind, bitte ich, meinen Geschwistern auf deren Verlangen aus¬
zuhändigen. Insbesondere gehören meinen Geschwistern oder deren Kindern
alle meine Schriften und der Ertrag, den sie etwa abwerfen. Ich hinter¬
lasse ihnen dieselben nicht, ich schenke sie ihnen, bevor ich brenne und
morde. Ich will das ausdrücklich bemerkt haben, falls ich sie nicht schon
vor der Mordnacht abgeschickt haben sollte.
Wir sind niemand etwas schuldig. Ich muß das feststellen, denn es
gibt viel Lüge und Betrug unter den Menschen. Dagegen stehen die Zinsen
der Mühlhäuser Pfandbriefe noch aus; kündigt den Lumpen ! Womöglich zünde
ich auch den Adler an, daß Ihr keine Beziehungen mehr zu dem Pack habt.
Das Geld steht außerdem noch bei der Mühlhäuser Darlehenskasse,
bei der städtischen Sparkasse Stuttgart und bei A.
Ich fürchte nicht, daß Euch irgend ein Makel trifft; Ihr werdet viel¬
mehr die Teilnahme der Menschen zu fühlen bekommen.
Ich selbst bedauere aufrichtig, Euch Sorge, Aufregung und Schmerz
verursacht zu haben, und wünsche Euch für die Zukunft alles Gute. Ver¬
gebt mich! Emst Wagner.“
Die Gesamtheit dieser von Wagner in den Tagen vor seinen
Gewalttaten geschriebenen und nach der Ermordung seiner Familie
zur Post gegebenen Briefe läßt erkennen, mit welcher Umsicht
und Besonnenheit er seine Taten vorbereitete und wie fest er
selbst davon überzeugt war, er werde in der Nacht vom 4. zum
5. September sein Leben beschließen. Über seinen Seelenzustand
in jenen Tagen gab er dem Herrn Untersuchungsrichter, also einige
Zeit nach der Tat, an, er habe in der letzten Zeit vor der Tat an
großen Aufregungszuständen gelitten.
„Ich mußte oft dreimal nachts das Hemd wechseln, so starken Nacht¬
schweiß hatte ich. Ich dachte: Wenn ich mit der Ausführung noch länger
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