Die Kunst.
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für etwas nimmt, was sie ihrem Wesen nach nicht ist.
Sie hat nicht zu belehren. Ist dagegen der historische
Stoff einer von denen, die aus irgend welchen Gründen
normalerweise und herkömmlich Träger eines bestimmten
Gefühlstones sind, wie etwa manche der religiösen Legen¬
den entnommene, und erlaubt sich der Dichter allerlei
Modifikationen, die zu jenem dem Gegenstände von vorn¬
herein anhaftenden Gefühlston in Widerstreit stehen, so
hat er mit den daraus erwachsenden, den ästhetischen
Genuß erschwerenden Gefühlskomplikationen zu rechnen,
und verstößt, wenn er nicht imstande ist, sie durch die
Kraft der eigenen Darstellung zu überwinden, gegen ästhe¬
tische Normen.
Das schließt jedoch nicht aus, daß die Kunst, be¬
sonders die Poesie, in einem gewissen weiteren Sinne
trotz alledem belehrt, Welt- und Menschenkenntnis ver¬
mittelt. Der Dichter holt seine Stoffe aus dem Leben,
er schaut meist tiefer als der Durchschnittsmensch und
seine Werke spiegeln die Ereignisse des Daseins klarer
als die Wirklichkeit, da sie das Wesentliche vom Zufälligen
sondern und übersichtlicher in gedrängtem Ablauf dar¬
bieten. Daran liegt es, daß sich so oft die Anschauung
vernehmen läßt, das Typische, das Symbol sei Gegenstand
der Kunst; und insoferne liegt etwas Wahres in der alten
Lehre, daß im Schönen das Wesen der Dinge, das Ideal
durchleuchtet. Die Kunst lehrt uns, „die Augen auf-
machen, lehrt uns aber zugleich sie auf die großen leiten¬
den Züge zu heften und dadurch die Wirklichkeit besser
zu verstehen“. (Höflfding.)