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Die Kunst.
Erreichung der künstlerisch-ästhetischen Wirkung. Wo
also mit richtigem Verständnis von „künstlerischer Wahr¬
heit“, „Naturwahrheit“ die Rede ist, da ist gar nicht
Wahrheit im eigentlichen Sinne gemeint. Denn die Kunst
hat uns ja nicht Urteile — für die allein es ein Wahr
und Falsch gibt — zu vermitteln. Höchstens bei der
Portrait- und Historienmalerei sowie der Illustration zu
Tagesereignissen und ähnlichem kann nach ihr gefragt
werden ; aber auch da ist die Wahrheit (im eigentlichen
Sinne) nur der außerästhetischen, außerkünstlerischen Be¬
trachtungsweise von Wert. Die künstlerische Wahrheit,
die Naturwahrheit eines Kunstwerkes bezieht sich viel¬
mehr auf das Verhältnis der von dem Kunstwerk voraus¬
gesetzten Gefühlsdispositionen zu den im Beschauer tat¬
sächlich vorhandenen, an der Wirklichkeit geschulten, und
besagt, daß jene mit diesen übereinstimmen. Darein sind
auch alle die Forderungen mit enthalten, die sich unter
dem Titel der Naturwahrheit auf die Form beziehen, wie
z. B. in der Malerei etwa auf Perspektive, Licht und
Schattengebung und ähnlichem, in der Dramatik auf die
Wahrscheinlichkeit des gegebenen Ablaufs der Hand¬
lung usw.
Wenn der Ruf nach Naturwahrheit zeitweilig in der
Kunst erhoben wird, so kann das jeweils in zweierlei Um¬
ständen seinen Grund haben. Entweder wendet er sich
gegen mehr oder minder traditionelle Abweichungen der
künstlerischen Darstellung vom natürlichen Vorbild, gegen
spezielle oder allgemeine Modifikationen des Originals in
o
der künstlerischen Wiedergabe, die früheren Generationen