Zusammenwirken der Gefühlsfaktoren.
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in ihnen ausgesprochen und vertreten finden. Ob sie mit
denen des Verfassers zusammenfallen, ist dabei einerlei.
Der Leser nimmt sie sofort als Äußerungen einer Persön¬
lichkeit und ist zu ethischer Stellungnahme veranlaßt.
Muß diese dem Charakter des Lesers oder der Natur der
zum Ausdruck gelangenden Anschauungen zufolge sehr
nachdrücklich sein, so stört sie notwendig das ästhetische
Verhalten. Natürlich sind die Bedingungen dazu im
höchsten Grade individuell verschieden. Sudermanns
„Heimat“ bringt Anschauungen über Ehe und Familie zur
Geltung, deren ethische Unlustwirkung wettzumachen
nicht jedem Theaterbesucher genügende ästhetische Kapa¬
zität zur Verfügung steht. Desselben Dichters Roman
„Jolanthes Hochzeit“ verlangt wegen der hochgradigen
Derbheit, mit der er eine der heiligsten Angelegenheiten
des Menschenlebens behandelt, bei ethisch empfindlichen
Lesern ebenfalls ungewöhnlich kräftige ästhetische Dis¬
positionen, wenn sie der zweifellos in ihm liegenden
ästhetischen Reize habhaft werden sollen.
Das Dritte, wodurch das ästhetische Verhalten häufig
mit ethischen Ernstgefühlen in Wettstreit gerät, ist mit
dem eben besprochenen verwandt. Vertritt ein Kunstwerk
nachdrücklich gewisse ethische Maximen, so wirkt es leicht
als gutes oder böses Beispiel, je nach der Beschaffen¬
heit dieser Maximen ; und das gibt naturgemäß zu ethischen
Gefühlen Anlaß. — Von welchem Belang dies übrigens
für die ethische Bewertung der Kunst im ganzen sein mag,
bleibt späterer Stelle zu besprechen Vorbehalten.
Dagegen hat das vorliegende Kapitel noch einen Fall