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Ziele und Wege der Schallanalyse.
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der Art, wie sie etwa in Fig. 71—79 in einer minimalen Auswahl
für den Vierertakt veranschaulicht sind. Und das führt zu der letzten
Hauptbemerkung hinüber, die hier zu machen ist.
Es ist nämlich ein wohlbekanntes Gesetz der Psychologie, daß
der Mensch unwillkürlich nach Abwechselung strebt, da, wo er
Handlung an Handlung stößt, hier also z. B. da, wo er Taktteil an
Taktteil, Takt an Takt, Taktgruppe an Taktgruppe reiht. So ist
es auch schon in der Musik verhältnismäßig selten, daß ein und
dieselbe einfache Taktfüllungsart gleichmäßig durch ein größeres Ge¬
bilde (z. B. durch ein ganzes Lied) durchgeführt wird: meist wird
auch da irgendwie differenziert, und das gleiche gilt auch vom
Sprechvers. Unser altes Beispiel Als ich noch ein Knabe war ge¬
hört, um nur eines herauszugreifen, sicherlich dem Typus des nicht-
graden (auch nicht kreisenden) falltonigen 4/4-Taktes an. Aber wir
bekämen sofort Hemmungen, wenn wir, sei es die schematische
Grundform des fallend-bogenden (Fig. 22), sei es die des fallend¬
schleifenden Taktes (also Fig. 28), einfach durchführen wollten: wir
müssen vielmehr für die erste, dritte und fünfte Strophe zu scbleifend-
bogend-falltonigem Takt differenzieren (Fig. 84) und in Strophe 2,
4 und 6 (also in geregeltem Wechsel) konkav beginnenden schleif-
tonigen Takt nach dem Schema von Fig. 85 ein treten lassen: in
beiden Fällen verkleinert sich überdies das Kurvenmaß nach dem
Schluß der einzelnen Verszeilen hin. So ähnlich geht es nun in
Musik wie in Sprechdichtung in tausendfachem Wechsel weiter, da
ja überall die Gegensätze von Grad, Bogend, Kreisend und Schleifend,
von Steigend und Fallend, von Normal und Umgelegt in die Variation
miteinbezogen werden können, neben Form, Größe, Lage und Dyna¬
mik der Begleitkurve. In Goethe erreicht diese Variabilität der
Taktfüllung ihren Höhepunkt: sein Reichtum an immer neuen und
neuen Formen ist fast unerschöpflich. Auch Schiller ist reichhaltig
genug an Wechselformen, wie überhaupt die ältere deutsche Dichtung
von der klassischen Zeit an. Die deutsche Dichtung der paar letzten
Jahrzehnte ist dagegen im allgemeinen wieder zu wesentlich starreren
und einfacheren Formen der Taktfüllung zurückgekehrt. Die anderen
modernen Literaturen scheinen in dieser Beziehung stark zu schwanken.
Als Besonderheit mag noch im Vorbeigehen bemerkt werden, daß
die ‘Freiheit5 der sog. «freien Rhythmen» in erster Linie darin
besteht, daß die Ta kt füll un gs art beliebig (also nicht nach irgend¬
einem System) innerhalb der Zeile wie von Zeile zu Zeile wechseln
kann. Heines «Nacht am Strande» (aus der «Nordsee») gibt dafür