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Über ein neues Hilfsmittel philologischer Kritik.
Melodien im letzteren Falle bloß vorgestellt werden, zu¬
gleich mit den Wortreihen, die ihre Träger sind, und aus
denen erst durch die — innerlich vollzogene — Addition
von Rhythmus, Melodie usw. überhaupt sinnvolle Sätze
hervorgehen.
Auch der schweigend arbeitende Schriftsteller pro¬
duziert daher bei seiner Tätigkeit fortlaufend vorge¬
stellte Melodien, auch wenn er sich dieses Teils seiner
Produktion nicht bewußt ist. Beim Niederschreiben
seiner Gedanken fallen aber diese Melodien mehr oder
weniger vollständig aus : denn unsere Schriftsysteme haben
leider kein irgendwie adäquates Ausdrucksmittel für der¬
gleichen Dinge.
Will der Lesende andrerseits einen geschriebenen
(oder gedruckten) Satz oder Text verstehen, so muß er
den vor seinen Augen erscheinenden Reihen von Wort¬
bildern aus Eigenem die Sinneselemente erst wieder hin¬
zufügen, die von dem Schreibenden nicht wiedergegeben
werden konnten. Dabei ist es gleichgültig, ob der Lesende
diese Ergänzung im lauten Sprechen vollzieht, oder durch
bloßes Hinzudenken bei stillem Lesen.
Diese Umsetzung der für sich allein betrachtet sinn¬
losen Textzeichen ins Sinnvolle geschieht zunächst instinktiv,
nach dem subjektiven Eindruck, den der Leser, gestützt
auf Erinnerungsbilder aus der lebendigen Rede, per ana¬
logiam aus der vor ihm liegenden Zeichenreihe gewinnt.
Dabei gewährt ihm einerseits das erwähnte System der
Führtöne, das ihm die einzelnen Wörter liefern, einen
Anhalt, andrerseits das ihm ebenso vertraute System der
ideellen Satzmelodien: beides selbstverständlich nur im
Zusammenhang mit gewissen (wenn auch wieder nicht
klar bewußten) Vorstellungen über zu erwartende oder
mögliche Sinnesreihen.
Diese subjektive Ausdeutung der Schriftzeichen durch
den Lesenden kann entweder 'richtig’ oder 'falsch5 sein,
je nachdem er die von dem Schreiber vorgestellte Melodie
trifft oder nicht. Wir müssen also, um Geschriebenes
Sievers, Rhythmisch-melodische Stadien.
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