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1. Zu Wernhers Marienliedern.1
Die Untersuchungen, welche seit den Tagen Lach¬
manns der mittelhochdeutschen Metrik in so reicher Fülle
zuteil geworden sind, haben einen großen Schatz metrischer
Erkenntnisse ans Licht gebracht. Über die Bildung und
Synkope der Senkungen, über die Hebungsfähigkeit sprach¬
lich minderbetonter Silben, über die gesamte Reimtechnik
verschiedener Zeiten und Dichter ist beispielsweise von
verschiedenen Standpunkten aus eingehend gehandelt wor¬
den. Überschaut man aber das Feld, auf dem bisher
vorwiegend gearbeitet worden ist, etwas genauer, so sieht
man bald, daß es sich bei den meisten Untersuchungen
mehr um etwas äußerlich Formales handelt : man hat
eben zunächst meist nur diejenigen Formfragen untersucht,
die für die Herstellung eines kritisch sauberen Textes in
Betracht kommen. Darüber ist aber ein anderes, und wie
mich bedünken will, in manchen Beziehungen Wichtigeres,
meist zu sehr in den Hintergrund getreten, die Frage
nach dem Ethos der Verse (wie ich es nennen möchte),
das doch unleugbar bei den einzelnen Dichtern wie Dich¬
tungsgattungen ein ganz verschiedenes ist. Warum be¬
rühren uns z. B. die Verse Wolframs so ganz anders als
die Hartmanns oder gar Gottfrieds? Die größere oder ge¬
ringere äußere Glätte allein macht es nicht, obwohl natür¬
lich auch sie ein Wort mitzusprechen hat. Der Haupt¬
unterschied liegt vielmehr in der verschiedenen inhalt¬
lichen Füllung des vierhebigen Rahmens, den diese
1 Entnommen aus den Forschungen zur deutschen Philologie.
Festgabe für Rudolf Hildebrand zum 13. März 1894. Leipzig, Verlag
von Veit & Comp. 1894.