60 Über Sprachmelodisches in der deutschen Dichtung.
Anders, sobald die Rede sieh höhere Ziele steckt.
Wer neben der inhaltlichen Wirkung zugleich eine Form¬
wirkung erzielen will, muß auch auf den Wohllaut
seiner Rede Bedacht nehmen, und er kann dieser Auf¬
gabe durch entsprechende Wortwahl gerecht werden,
indem er nur solche Wörter und Wortgruppen in die
Rede einstellt, die bei ungezwungener Betonung dem Ohr
gefällige Rhythmen und Tonfolgen darbieten. Das gilt
von der Prosa wie von der Poesie. Nur ist ein wesent¬
licher Gradunterschied vorhanden. Zwar kann selbst-
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redend auch die Prosa im Einzelfalle ein individuelleres
rhythmisch-melodisches Gepräge erhalten, aber im Prinzip
bleiben doch bei ihr Rhythmus und Melodie von Fall zu
Fall frei beweglich. Die Poesie aber legt sich von vorn¬
herein, schon durch die Wahl eines bestimmten Vers¬
maßes, gewisse Formschranken auf. Zunächst wird da¬
durch zwar nur die Freiheit der rhythmischen Bewegung
eingeschränkt : aber die größere Gleichmäßigkeit der rhyth¬
mischen Form treibt, nicht notwendig, aber doch oft und
unwillkürlich, auch zu festerer Regelung des Melodischen,
das ja, wie man weiß, an sich das wirksamste Variations¬
mittel für den Ausdruck qualitativ verschiedener Stimmungen
ist. Um so stärker aber wird der Trieb zu prägnanterer
Regelung des Melodischen hervortreten, je mehr der Dichter
während des Gestaltungsprozesses unter dem Einfluß einer
jener allgemeinen suggestiven Melodie Vorstellungen steht,
deren wir oben gedachten, und je charakteristischere
Formen die vor-[56]gestellten Melodien haben. Um so
mehr wird dann der Dichter jedesmal auch positiv darauf
Bedacht nehmen, seine Worte so zu wählen, daß sie sich
in das vorgestellte melodische Ausdrucksschema gut ein-
fügen, und negativ darauf, zu meiden, was dieser For¬
derung nicht genügt.
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Ubt nun so die vorgestellte Melodie beim arbeitenden
Dichter einen nicht gering anzuschlagenden suggestiven
oder prohibitiven Einfluß auf die Wortwahl aus, so ver¬
anlaßt umgekehrt die von ihm getroffene Wortwahl beim