Zur Rhythmik und Melodik des nhd. Sprechverses. 37
der einzelnen Faktoren getrennt bewußt wird, aus denen
sich dieser Eindruck zusammensetzt. Aber ein volles Ver¬
ständnis der Wirkung werden wir doch erst erreichen,
wenn es uns gelingt, jene Gesamtwirkung zu zergliedern
und dadurch auch zu lernen, jeden Einzelfaktor seinem
Werte nach abzuschätzen und seine künstlerische Ver¬
schlingung mit den übrigen Faktoren zu verfolgen, mag
es sich dabei um eine Wirkung in gleichem Sinne oder
um Spiel und Widerspiel handeln.
Dem Metriker speziell fällt also die Aufgabe zu, den
Anteil festzustellen und zu zergliedern, den die lautliche
Kunstform der Poesie im Gegensatz zur Lautform der
ungebundenen Rede an der eigentümlichen Wirkung des
einzelnen Dichtwerks wie der Dichtung überhaupt hat.
Damit ist denn zugleich gesagt, daß die altherkömmliche
Auffassung der Metrik als der Lehre von den Zeitmaßen
der gebundenen Rede viel zu eng und einseitig ist, und
auch die Herbeiziehung der Betonungsschemata, wie sie
in der deutschen Metrik auch jetzt noch geübt wird, reicht
nicht aus, die Aufgaben der wissenschaftlichen Metrik
vollständig zu lösen. Die Lehre von den Zeitmaßen wie
von der Betonung der gebundenen Rede ist nur je ein
Kapitel aus der Lehre von der spezifischen Lautform der
gebundenen Rede überhaupt. Die wissenschaftliche Metrik
hat vielmehr alles in ihren Bereich zu ziehen, was dazu
beiträgt, der Lautform der gebundenen Rede ihren Kunst¬
charakter zu verleihen, und jedes dieser Elemente muß
sie auf seinen Wirkungswert hin prüfen. Es ist nicht
anders als bei dem Kunstwerk selbst. Fällt bei diesem
auch nur eines der den Kunstcharakter bedingenden Mo¬
mente aus, so verliert das Kunstwerk den Charakter der
Vollendung, durch den es andernfalls auf uns wirkte, und
entgeht ein solches Moment dem zergliedernden Theo¬
retiker, so verliert er damit ein Mittel zum Verständnis
eben jener Kunstwirkung, von der er Rechenschaft ab-
legen soll. Was bleibt von dem wohllautendsten Verse,
von der formvollendetsten Dichtung an Wirkung übrig,