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Zur älteren Judith.
mehr an Zeit, als bei gewöhnlichem Sprechtempo der
einzelnen Silbe oder dem Silbenpaar zugemessen zu
werden pflegt. Man muß also schon beim zweisilbigen,
noch mehr aber bei dem nur einsilbigen Fuß im Ge¬
sang dem Sprechvortrag gegenüber etwas dehnen. Der
Sprechgewohnheit aber ist eine solche Überdehnung zu¬
wider, und darum geht die Entwicklung des vom Gesang
abgelösten Sprechverses darauf hinaus, durch ein andere
Art von Versfüllung wieder mehr die natürlichen Quan¬
titäten der Sprechsilben (bzw. der Gruppen von solchen)
zur Geltung zu bringen. Wo dies Ziel erreicht ist, hat
also der zweisilbige [188] Normalfuß nicht mehr das ge¬
steigerte Zeitmaß von
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# #
den xpovoç
TrpujTOç als h gerechnet), sondern nur noch das Durch¬
schnittsmaß von | x' x |, d. h. der Zeit, die man, kurz
und lang in eins gerechnet, bei normalem Redetempo
durchschnittlich für zwei gewöhnliche Sprechsilben braucht.
Kommen in einem Gedicht dieser Art einmal Füße von
mehr als zwei Silben vor, so muß das Sprechtempo an
dieser Stelle beschleunigt werden, damit die drei Silben
(um mehr handelt es sich ja nur ausnahmsweise) nicht
mehr Zeit verbrauchen als sonst im Durchschnitt auf
zwei Silben entfällt (vgl. dazu Metr. Studien 1, S. 47).
10. Die Gangart, der hier beschriebenen Gattung
von Versen kann als leicht bezeichnet werden, weil
sie an die natürlichen Zeitverhältnisse der gesprochenen
Rede anknüpft, und jedenfalls nirgends gegen den Sinn
geschleppt wird. Leicht in diesem Sinne sind z. B.
Verse wie
Ein ritter so geleret was
daz er an den buochen las
swaz er daran geschriben vant.
Nach solchen Mustern kann man aber die Verse
der Judith might lesen, ohne ins Groteske zu verfallen.
Für sie muß man vielmehr, wenn man sie überhaupt
deklamieren will, eine viel schwerere Gangart wählen,
d. h. die Fußzeit von vorn herein größer nehmen