Achtes Kapitel: Rhythmus und Reim.
401
Der Endreim scheidet und verbindet Verse. Er schliefst
unmittelbar aufeinanderfolgende Verse zu einem Ganzen zu¬
sammen, oder verkettet oder verwebt Verse in minder einfacher
Form. Dies alles je nach der Art der Anordnung der reimen¬
den Lautkomplexe.
Aber der Reim scheidet und verbindet die ganzen Verse.
Indem er die Schlufsbetonung und eventuell die ihr folgenden
Silben heraushebt, und die Aufmerksamkeit darauf konzentriert,
fafst er die ganzen Verse in höherem Grade in diesem letzten
und endgültigen Einheitspunkt zusammen. Er macht sie also
in höherem Grade zu geschlossenen Einheiten. Er betont die
kompakte Masse des Verses.
Und daraus folgt nun ein Mehrfaches. Der Reim stellt
vermöge des bezeichneten Umstandes zunächst .zwei Forde¬
rungen an den Vers. Jede dieser Forderungen hat aber zu¬
gleich ihre negative Kehrseite. Durch jede derselben wird eine
entgegenstehende Forderung aufgehoben.
Einmal: — Der Reim wäre nichts als ein äufserliches An¬
hängsel der Verse, würde also dieselben für unser Gefühl nicht
zu einer Einheit verbinden oder verweben, sondern sie erst
recht einander fremd erscheinen lassen, wenn nicht die Verse,
schon abgesehen vom Reim, als einander gleichartig oder inner¬
lich zu einander gehörig sich darstellten. Es gilt hier die all¬
gemeine Regel: Hinzufügung eines Gleichen zu einem Heterogenen
bindet niemals ästhetisch, sondern erhöht den Eindruck der
Fremdheit. Die durch den Reim aneinander gebundenen Verse
müssen also einander in besonderem Grade gleichartig sein.
Aber sie müssen, da sie durch den Reim im Ganzen
aneinander gebunden sind, einander gleichartig sein als Ganze
oder im Ganzen, hinsichtlich ihres Totalcharakters, für den
Gesamteindruck.
Damit tritt aber zugleich die Frage nach der Bildung der
Verse im Einzelnen relativ in den Hintergrund. Je mehr
im Ganzen das Ganze, die kompakte Masse, der Totaleindruck,
das herrschende Moment ist, desto mehr wird das Einzelne
bedeutungslos.
Dies heifst zunächst, es mindert sich die Bedeutung des
Lipps, Ästhetik I. 3. flufl. 26