Sechstes Kapitel: Vermeintliche ästhetische Prinzipien.
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Sechstes Kapitel: Vermeintliche ästhetische Prinzipien.
Prinzip der „Gewohnheit“.
Anhangsweise erwähne ich endlich noch ein angebliches
ästhetisches Formprinzip, das in Wahrheit kein Recht auf diesen
Namen hat.
Auf die Frage, was denn mache, dafs neue Formen, die
erst mit Widerstreben aufgenommen wurden, später sich ein¬
bürgern, hat man geantwortet: Das tut die Gewohnheit. (Jnd
auf die Frage, wie es geschehe, dafs Formen veralten, dafs
wir ihrer müde oder überdrüssig werden, und nach neuen
Formen verlangen, hat man ebenso die Antwort gegeben: Das
tut die Gewohnheit.
Nier ist offenbar die „Gewohnheit“ in doppeltem Sinne ge¬
nommen. Im ersteren Falle ist sie ein anderer Name für das
sich Hineinleben in Formen, das allmählich immer sicherère
Erfassen und sich innerlich zu eigen Machen ihres Sinnes oder
ästhetischen Inhaltes. Alle Formen, die sich „einbürgern“, haben
notwendig einen solchen Sinn und Inhalt. Es liegt in ihnen
etwas, das seiner Natur nach fähig ist, gewertet zu werden
und zu befriedigen, das ihnen demnach ein relatives inneres, in
ihrem eigenen Wesen gegründetes, also „objektives“ Daseinsrecht
gibt. Auch jede sich einbürgernde Kleidermode beweist eben
dadurch, dafs sie sich einbürgert, dafs sie einen positiven
ästhetischen Sinn und Inhalt hat, d. h. dafs sie eine Seite der
menschlichen Persönlichkeit und ihres Gebarens, die uns der
Versinnlichung wert scheint, zur sinnlichen Veranschaulichung
bringt. Dafs uns aber die Mode dies Inhaltsmoment unmittelbar
und eindringlich vergegenwärtigt, dazu bedarf es des sich
„Hineinlebens“ oder des Eindringens, so etwa, wie es auch des
sich Hineinlebens in ein Bild oder in eine Dichtung bedarf. Wir
müssen uns „gewöhnen“, d. h. üben, dasjenige, was in der Form
für uns liegt, sicher und mit Selbstverständlichkeit aus ihr
herauszulesen.
Dagegen ist im zweiten Falle die „Gewohnheit“ ein Aus-