II. Die Einfühlung.
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Quart dagegen stellt sich der Tonika selbständig gegenüber, ja sie be¬
ansprucht ihrerseits, Zielpunkt der Tonika und damit aller Töne der Leiter
zu sein. Die reichere, d. h. zunächst die aus allen Tönen der diatonischen
Leiter aufgebaute Melodie vollzieht sich in der Überwindung des An¬
spruchs anderer Töne der Leiter und vor allem der Quart, an Stelle der
Tonika Ziel- und Ruhepunkt des Ganzen zu sein. Der wichtigste Ver-
•mittler bei dieser Überwindung ist die Quint, anderseits spielen dabei die
Leittöne eine entscheidende Rolle. Die Melodie ist ein sukzessive ent¬
stehendes, wie der einheitliche Akkord ein simultan gegebenes, rhythmisches
System auf einheitlicher Basis.
Eine zweite besondere Bemerkung ist zu machen über die HarmonieFarbenharmonus.
der Farben: Auch sie beruht auf dem Prinzip der Differenzierung und
des Gegensatzes oder Kontrastes auf einer einheitlichen Basis. Eine
solche einheitliche Basis besteht, nach Aussage unseres Gefühls, schon
bei den großen Kontrasten: Gelb und Blau, Rot und Grün usw. Die
Einheitlichkeit steigert sich noch, wenn ein gemeinsamer Farbenton in den
miteinander verbundenen kontrastierenden Farben deutlich heraustritt. In
unmittelbarster Weise leuchtet die Einheit in der Mannigfaltigkeit oder
im Gegensätze ein bei der Verbindung verschiedener Helligkeitsstufen der
gleichen Farbe. Auch der stetige Übergang von Farbe in Farbe endlich
ist ein Prinzip der Vereinheitlichung.
Vor allem anschaulich ist die Gültigkeit der aufgestellten allgemeinen
ästhetischen Formprinzipien und der in ihnen eingeschlossene Reichtum
von Möglichkeiten in dem freien poetischen und in dem gebundeneren
musikalischen Rhythmus. Darauf wurde schon andeutend hingewiesen.
H. Die Einfühlung. So wichtig die allgemeinen ästhetischen Form¬
prinzipien sind, so vermögen sie allein doch noch nicht, ein Objekt ästhe¬
tisch wertvoll zu machen. Das ästhetische Objekt hat eben nicht nur
Form, sondern es hat zugleich Inhalt. Dieser ist jederzeit ein seelischer.
Er kommt in die ästhetischen Objekte hinein durch „Einfühlung“.
Die Einfühlung vollzieht sich in mannigfacher Gestalt und erfüllt Artender
die ästhetischen Objekte mit mannigfachem Inhalt. Immer aber ist dieser
Inhalt derselben Quelle, nämlich meiner eigenen Selbstbetätigung, ent¬
nommen.
Nichts kann Gegenstand der ästhetischen Betrachtung sein, ohne daß
es eben betrachtet d. h. aufgefaßt, innerlich angeeignet, „apperzipiert“ wird.
Und da jedes ästhetische Objekt irgend ein Mannigfaltiges in sich schließt,
so ist dies Auffassen immer zugleich ein Zusammenfassen, ein inneres
Fortgehen von einem zum anderen Element des Objektes, ein sukzessives
zueinander Hinzunehmen und ein Vereinheitlichen in solcher sukzessiven
Hinzunahme.
Hierin liegt eine innere Bewegung und Tätigkeit. Sie ist meine
Bewegung und Tätigkeit. Aber sie scheint es auch wiederum nicht. Sie