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Th. Lipps,
Das andere Mal dagegen sträubt sich der tiefste Grund meines
Wesens gegen die Zumutung, mich so zu fühlen, wie es die Gebärde
»will«. Ich setze mich mehr oder minder heftig gegen den Hoch¬
mut, der in mich eindringt und von mir miterlebt werden soll.
Jenen edeln Stolz verspüre ich darum als eine Lebensbejahung,
die ich gern innerlich in mir vollziehe; diesen dummen Hochmut
dagegen als eine abzuweisende Lebensverneinung.
In keinem Falle aber stelle ich bloß vor. In jedem Falle
erlebe ich. Nur dort eine freie, obzwar aus dem Objekt stam¬
mende und durch dasselbe in mir angeregte — in diesem Sinne
nicht »spontane« — Betätigung meiner selbst; im andern Falle
einen Eingriff in mein Selbst. Ich erlebe im letzteren Falle das
in mich Eingreifende nicht als etwas, zu dem mein eigenes Wesen
ja sagt, sondern ich erlebe es eben als Eingriff, den ich abwehre.
Auf diesem Boden nun, meine ich, kann ich mich mit meinen
Herren Gegnern finden. Aber das ist eben nicht der Boden der
Vorstellung, weder der anschaulichen noch der unanschaulichen,
sondern der Boden der Einfühlung, der ästhetischen Sympathie, der
positiven und der negativen. — Man könnte diese negative Sym¬
pathie auch ästhetische Antipathie nennen.
Ich unterziehe aber die Tatsache der Einfühlung im folgenden
noch einer weiteren Betrachtung. Ich erinnere zunächst zur Klä¬
rung dieser Tatsache, ich hoffe zum Überfluß, an Tatsachen, die
niemand leugnet. Ich meine die Tatsache der unwillkürlichen,
automatischen oder instinktiven Nahahmung.
Ich greife das trivialste Beispiel solcher Nachahmung heraus.
Es ist dies dasselbe triviale Beispiel, von dem ich auch in der
jetzt im Erscheinen begriffenen zweiten Auflage meiner »Ethischen
Grundfragen« ausgehe. Der Begriff der Einfühlung ist ja eben¬
sowohl ein ethischer wie ein ästhetischer Grundbegriff; nur daß
in der Ethik die Einfühlung als praktische, in der Ästhetik als
ästhetische in Betracht kommt.
Gähnen wirkt ansteckend oder suggestiv. Ich sehe einen Men¬
schen gähnen; und dies veranlaßt mich zu gähnen. Ich gähne
unwillkürlich mit. Den Sinnen stellt sich hier die Nachahmung
dar als äußere Nachahmung. Aber dieser äußeren liegt eine
innere Nachahmung zugrunde. Der körperliche Vorgang des
Gähnens vollzieht sich bei mir, weil die innere Zuständlichkeit,