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Schluss.
konzentriert sind, so verhält es sich auch bei jedem
anderen Kunstwerk. Natürlich können wir dabei dem
Künstler, der alles auf eine ganz bestimmte Haupt¬
wirkung hin gestaltet hat, nur dann völlig gerecht
werden, wenn wir uns seinem Standpunkt entsprechend
einstellen. Wie aber bei dem Künstler selbst während
der Ausarbeitung Nebenabsichten hervortreten können,
die eine Zeitlang den Hauptzweck in den Hintergrund
drängen, so kann auch der Betrachter, besonders bei
Wiederholung des Gienusses, seine Aufmerksamkeit
den mannigfachsten Nebenwirkungen zuwenden, und
es ist gerade ein Vorzug der höchsten Offenbarungen
des Grenies, dass sie über einen inneren Reichtum ver¬
fügen, der sie bei wechselnden Einstellungen immer
wieder neu erscheinen lässt, wie die unendliche Natur
selbst. Ja, wir müssen sogar das, was vorhin über
den Künstler gesagt wurde, bis zu einem gewissen
Grrade einschränken. Wenn auch jede geniale Kon¬
zeption vermutlich von einem einzigen Hauptinteresse
ausgeht, so können doch andere Tendenzen so mächtig
werden, dass man bei dem fertigen Kunstwerk kaum
zu sagen weiss, welches schliesslich der eigentliche
Schwerpunkt des Granzen ist. Bei welchem Betrachter
der Sistina würde Raffael selbst von einer richtigen
Einstellung reden, bei dem, der ganz in dem Eindruck
einer lebendigen Schönheit und göttlichen Herrlichkeit
aufgeht, oder bei demjenigen, dessen Bewusstsein vor¬
wiegend von dem Entzücken über die geniale Kom¬
position der Linien erfüllt ist?
Wenn so die Anzahl möglicher Einstellungen fast