208
Fünftes Kapitel.
anderen Weg, nämlich den der Enquete, hat Yernon
Lee eingeschlagen, doch sind die Ergebnisse dieser
Umfrage noch nicht veröffentlicht.) Ferner würde es
auch nicht ohne Interesse sein, näher auf die Er-
s cheinung der ästhetischen Abstumpfung einzugehen,
wobei es vorkommt, dass wir ein Kunstwerk, welches
wir schon sehr oft gesehen haben, vollkommen in
seinen Vorzügen würdigen können, ohne dass sich
doch dieses kühlere Gemessen in ein eigentliches Ge¬
packtwerden verwandelte. Nach meiner Erfahrung
lässt sich hier manchmal der Übergang zum inten¬
siveren Gemessen willkürlich durch Innervationen von
imitatorischem Charakter erzeugen, wobei es freilich not¬
wendig ist, die Aufmerksamkeit möglichst fest an das
Objekt gebunden zu halten, was vielleicht nicht jedem,
der es versucht, glücken wird. Endlich würde die
Frage der beim ästhetischen Miterleben hervortreten-
den Gefühle eine genaue Erörterung verdienen. Die
ästhetischen Emotionen sind sehr mannigfaltig, sodass
die eigentlichen Gefühle des Miterlebens („sympathi¬
sche“ oder „Nachahmungsgefühle“) nur einen Teil der in
Betracht kommenden Gemütsbewegungen ausmachen.
Rötteken hat die übrigen Gefühle als reaktive den
sympathischen gegenübergestellt; ähnlich verfährt Th.
A. Meyer in seinem „Stilgesetz der Poesie“ (1901),
das leider erst nach Drucklegung meiner im zweiten
Kapitel gemachten Ausführungen über die Lesepoesie
erschienen ist. Hier möchte ich nur betonen, dass ich
die Gefühle des Miterlebens ebenso wie Lipps als
reale Gefühle betrachte und immer betrachtet habe.