Die künstlerische Nachahmung. 59
dabei nicht so sehr an seine innere Stimmung gebunden sein,
wie er es doch thatsächlich ist. Wenn er die äufsere, ma¬
terielle Existenz wiedergeben wollte, so liefse sich kein
Grund einsehen, warum er nicht immer zum künstlerischen
Schaffen fähig sein sollte, sofern nur seine Sinne nicht ge¬
trübt und seine Hände nicht erlahmt sind. In Wahrheit
kann er aber sofort nicht mehr recht künstlerisch arbeiten,
sowie sein Bewufstsein irgendwie durch Tendenz oder Reiz,
durch Neigung oder Abneigung aus dem Ablösen des
Scheines herausgerissen wird. Der Naturgegenständ
bleibt dabei der gleiche, der ist noch geradeso gegenwärtig
wie zuvor; aber der ästhetische Schein wird zerstört, und
damit verschwindet gerade das, was der Künstler durch
seine Nachahmung aus dem Verborgenen an’s Licht brin¬
gen will.
Man verwerfe also wegen der falschen, unästhetischen
Nachahmung nicht die echte, ästhetische*)! Die richtige
Nachahmung ist keine sklavische; auch sie wirkt umgestal¬
tend auf das sinnlich Gegebene, nur vollzieht sich dies un-
bewufst, nicht mit freiem Willen. — Richard Wagner hat
diese Thatsache klar ausgesprochen, wenn er schon die ästhe¬
tische Anschauung des Laien, wegen ihrer concentrirenden
und isolirenden Thätigkeit eine natürliche Dichtungsgabe
*) Die echte Nachahmung verhält sich zur falschen wie der
Realismus zum Naturalismus. Vgl. hierüber die treffenden
Bemerkungen von Th. Alt, „System der Künste“, S. 19.