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Das Erhabene.
muthig. Ein gothischer Thurm dagegen, dessen Höhe drei¬
mal gröfser ist, wirkt entschieden erhaben. Wo liegt da
die Idee einer unendlichen Gröfse? Oder wo auch nur das
Gefühl der subjectiven Unermefslichkeit ? Ich kann die
Höhe von 450 Fufs ebensogut annäherungsweise schätzen
wie die von 150 Fufs, und auch die Vorstellung, dafs der
erhabene Thurm den zierlichen um dessen doppelte Höhe
überragt, hat doch wahrhaftig nichts Mafs- und Endloses an
sich. Es hilft auch nichts, wenn man die ästhetische Per¬
sonification herbeizieht und sagt, der erhabene Thurm trete
uns ästhetisch als eine unendlich überlegene Persönlich¬
keit entgegen, weil uns für die geistige Macht, die während
der ästhetischen Betrachtung aus einem so gewaltigen Bau¬
werk spreche, alles Mafs fehle. Denn dieses Mafs fehlt
uns doch auch bei dem dreimal kleineren Thurm vollstän¬
dig, ohne dafs dadurch an Stelle des zierlichen ein er¬
habener Eindruck träte. Das Gefühl der Erhabenheit wird
eben in diesem Falle thatsächlich nicht erst durch die Idee
des Unendlichen geweckt, sondern es genügt, dafs mir ein
Object entgegentritt, dessen Verhältnisse entschieden über
%
das Normale hinausgehen und mir daher als etwas unge¬
wöhnlich Mächtiges imponiren. Geradeso verhält es sich
bei dem gewaltigen Wasserfall, bei dem Orkan, bei dem
Hochgebirge und vielen ähnlichen Erscheinungen : Die Vor¬
stellung des aufsergewöhnlich Mächtigen reicht vollständig
aus, um den erhabenen Eindruck hervorzubringen und be¬
darf der Hilfsvorstellung des absolut Unendlichen durchaus
nicht. So wenig ich eine mir drohende Kraft unendlich