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Das Erhabene.
So einfach diese erste Bestimmung ist, so führt sie doch
gleich zu'einer Schwierigkeit. Die Erscheinung, die wir er¬
haben nennen, wird nämlich unter Umständen sehr weit
über die gewöhnlichen Verhältnisse hinausgehen und da¬
durch den Mafsstab, den wir den Dingen anzulegen gewohnt
sind, als ungenügend erscheinen lassen. Wir werden dann
leicht das Gewaltige in übertreibender Weise als etwas Un-
ermefsliches bezeichnen, und es wird von da aus nur ein
kleiner Schritt sein bis zu der Idee des absolut Unend¬
lichen. Das Unendliche aber erfüllt unser Gemüth mit
einem ehrfurchtsvollen Schauder, und es liegt daher nahe,
t
den Eindruck der Erhabenheit, der ja stets etwas der Ehr¬
furcht Verwandtes hat, nicht direct aus der Anschauung des
gewaltigen, aber doch begrenzten Gegenstandes als solchen
abzuleiten, sondern aus der Vorstellung des Unend¬
lichen, die der Gegenstand blofs anregt, ohne
ihr adaequat zu sein. — Diese Ableitung des Erhabenen
aus der Idee des Unendlichen ist in der deutschen Aesthetik
sehr verbreitet, und zwar aus zwei Gründen. Einmal macht
sich dabei die aufserordentlich weitreichende Einwirkung
Kants geltend, der in seiner zwar nicht immer consequenten,
aber an genialen Einfällen reichen Aesthetik das Erhabene
aus der Vernunftidee des Unendlichen erklärt. Zweitens
aber hat die in Deutschland herrschende speculative
Aesthetik, die ihre Probleme nicht durch psychologische,
sondern durch metaphysische Erörterungen zu lösen sucht,
ganz naturgemäfs eine Vorliebe für den Begriff des Unend¬
lichen und ist in Folge dessen der Ansicht Kants beige-