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Illusion und Täuschung.
beginnt und dadurch alles Ruhende bewegt, alles Todte
lebendig macht, eine Täuschung, die ich nur spielend gelten
lasse, in die ich freiwillig eingehe und die ich freiwillig ver¬
lassen kann.
Von der auf diese Weise gekennzeichneten ästhetischen
Illusion, in der wir spielend uns selbst täuschen, ist die
thatsächliche Täuschung, durch die wir ernstlich getäuscht
werden, scharf zu unterscheiden : jene ist activ und frei¬
willig, diese passiv und unfreiwillig. Die wichtigste Täusch¬
ung, die hierbei in Betracht kommt, ist die, wodurch wir
ein Kunstwerk im Ernst (nicht spielend) für das reale Vor¬
bild halten, welches der Künstler eben „täuschend“ nach¬
geahmt hat. Es ist sicher, dafs der Künstler überall da, wo
er eine solche Irreführung beabsichtigt und erreicht, den
eigentlichen Zweck seiner Kunst verfehlen mufs. Denn vor
allem erwarten wir im Kunstwerk die Wiedergabe einer
wahrhaft ästhetischen Anschauung; die ästhetische Anschau¬
ung ist aber, wie ich im ersten Theil zu zeigen versuchte,
immer mit einer Concentrirung auf bestimmte Seiten der
Erscheinung und in Folge dessen mit einer Abstraction von
andern Theilen des sinnlich Gegebenen verbunden. Wo der
Künstler die Natur so unverändert und vollständig wieder¬
gibt, dafs er uns täuscht, da haben wir ein Recht, zu ihm
zu sagen : du bist sehr geschickt, und wir bewundern deine
Geschicklichkeit; aber wozu die Mühe? Stelle den realen
Gegenstand vor uns hin, und wir haben genau den gleichen
Genufs. Das, was wir eigentlich von dem nachahmenden
Kunstwerk erwarten, nämlich dafs es uns zuruft : seht, so