210
Das morphologische Grundgesetz.
rechnen, eine Entdeckung, auf die wir um so mehr näher
einzugehen haben, als sie auf eins der Grundgesetze der
organischen Kinese ein helles Licht wirft.
Im verflossenen Frühjahr haben öffentliche Blätter die
Nachricht von dem am 27. April erfolgten Tode des Professors
Dr. Adolf Zeising in München gebracht. Den Kreisen der
Künstler und Gelehrten war der Verstorbene rühmlichst be¬
kannt durch sein Werk über den Goldenen Schnitt.
Dem grösseren Publicum ist das Buch im ganzen ziemlich
fremd geblieben, da es zu einer Zeit veröffentlicht wurde, wo
die Naturwissenschaft mit den grossartigsten, unmittelbar in
das volle Leben eingreifenden Forschungen und Entdeckungen
beschäftigt war. Ueber die sie ganz in Anspruch nehmenden
nächsten Ziele hinaus durfte sie sich nicht gemüssigt sehen, auch
solchen Bestrebungen Aufmerksamkeit zuzuwenden, die nach dem
ersten Anschein mehr idealistischer Richtung waren. Und was
damals nicht von der Naturforschung als eine hervorragende
Leistung signalisirt wurde, blieb vorläufig im Hintergrund und
hatte eben seine Zeit abziwarten.
Diese Wartezeit ist nunmehr vorüber. Abgesehen von
den ersten vereinzelten Beifallszeichen seitens der Naturfor¬
schung gleich nach Zeising s erstem Auftreten, ist es von ent¬
schiedener Bedeutung, dass seit dem Beginn des gegenwärtigen
Jahrzehntes gerade die beiden Namen, von denen der eine als
Begründer der physiologischen Psychologie, der andere als ihr
Fortsetzer hoch hervorragt, G. Th, Fechner und W. Wundt,
sich innerhalb bestimmter Grenzen für die Lehre Zeising' s gün¬
stig ausgesprochen haben. Auch kam ihr gleichzeitig von
anderen Seiten her erneute Zustimmung entgegen, besonders
seit die Speculation sich mit der Empirie ins Einvernehmen zu
setzen bemüht war. Und so ist es denn auch die Philosophie,
welche das Proportionsgesetz des Goldenen Schnittes princi-
piell für alle Richtungen der organischen Lebendigkeit aufrecht
erhält.
Unter dem Schutz „philosophischer Evidenz“ erscheint das
Zeising'sehe Gesetz als der Höhenpunkt, in welchem 0. Caspari's
neuestes Werk gipfelt. Wie man bisher mehr dunkel geahnt,