§• 33.
FORMEN DER EMPIRISTISCHEN THEORIE.
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Ich erkenne aber durchaus an, dass die hier discutirten Fragen noch nicht
vollkommen spruchreif sind. Ich habe meinen eigenen Standpunkt theils wegen
der Einfachheit der Erklärungen, die sich aus ihm ergeben, so gewählt, theils
aber auch besonders aus methodologischen Rücksichten, indem ich es nämlich
stets für rathsam halte, die Erklärungen der Naturprocesse auf die möglichst
geringste Zahl und auf möglichst bestimmt gefasste Hypothesen zu bauen.
Andererseits aber muss ich doch auch sagen, dass, je mehr ich im Fortgang
dieser Untersuchungen, die mich einen guten Tlieil meines Lebens hindurch be¬
schäftigt haben, lernte meine Augenbewegungen und meine Aufmerksamkeit
mit freiem Willen zu beherrschen, es mir desto unzulässiger erschien, die we¬
sentlichen Phänomene dieses Gebiets aus einem vorher schon gegebenen Nerven-
mechanismus erklären zu wollen.
Was die, Unterschiede meiner liier gegebenen Darstellung, deren Wesentliches ich schon
in einer populären Vorlesung im Jahre 1855 veröffentlicht habe, von anderen neueren Ar¬
beiten betrifft, die auf der Grundlage einer empiristischen Theorie des Sehens fussen, so
habe ich für die Abmessung der räumlichen Verhältnisse des Sehfeldes sowohl, als der Ent¬
fernung der gesehenen Objecte weniger Nachdruck auf die Muskelgefühle gelegt, als Wundt,
weil ich dieselben aus den oben angeführten Gründen glaube für ziemlich ungenau und ver¬
änderlich halten zu müssen. Ich habe vielmehr die hauptsächlichsten Abmessungen des Seh¬
feldes aus der Deckung verschiedener Bilder mit denselben Netzliauttheilen hergeleitet.
Wundt hat namentlich die hierher gehörigen psychischen Phänomene einer ausführlichen und
sehr dankenswerthen Bearbeitung unterworfen. Einzelne Beobachtungen, in denen ich von
ihm abweiche, sind oben notirt.
A. Nagel erklärt die Entstehung der binocularen Doppelbilder aus der Annahme, dass
beide Augen ihre Netzhautbilder auf zwei verschiedene Kugelflächen nach aussen projicirten.
Der Mittelpunkt dieser Kugelflächen wird im Kreuzungspunkt der Visirlinien des entsprechen¬
den Auges angenommen, und beide Kugelflächen sollen sich im Fixationspunkte schneiden.
Dabei muss also eigentlich jeder Punkt, der nicht in der Schnittlinie beider Kugeln liegt, in
Doppelbildern erscheinen. Diese Projectionen denkt sich Nagel nun von dem Halbirungspunkt
der Verbindungslinie beider Augenmittelpunkte aus angesehen, und je nachdem sich dabei die
Doppelbilder decken, oder gekreuzt oder gleichseitig neben einander liegend erscheinen, sol¬
len sic es auch im Gesichtsfelde thun.
Nagel’s Theorie kommt zwar der Wahrheit schon ziemlich nahe; aber einmal ist sie
etwas künstlich, da sie eine doppelte Projection voraussetzt, zweitens fehlt in Wirklichkeit
die Anschauung einer verschiedenen Entfernung der beiden Doppelbilder, welche Nagel’s
Theorie in den meisten Fällen fordert; endlich würde ihr zufolge die Lage der einfach ge¬
sehenen Bilder nicht immer genau mit der Wirklichkeit stimmen. Uebrigens ist dies wohl
der einzige wesentliche Punkt, in welchem meine oben gegebene Theorie von der Nagel’s
abweicht.
Die richtige Theorie der Doppelbilder und ihrer Lage wurde dagegen von A. Classen
gegeben, wenn auch dabei mit Unrecht die factische Richtigkeit der von Hering angegebenen
Phänomene, welche sich auf das scheinbare Centrum der Richtungslinien mitten zwischen
beiden Augen beziehen, geleugnet ist. Ich selbst bin zwar, ebenso wenig wie Herr Classen,
geneigt, diese Erscheinung zur Grundlage aller unserer Localisationen zu machen, und halte
sie nur für eine nebenher gehende Sinnestäuschung, die bei mir selbst auch für das rechte
und linke Auge in verschiedenem Grade stattfindet und durch geschärftere Aufmerksamkeit
überwunden werden kann; aber es ist eine Täuschung, die wirklich besteht.
Eine wesentlichere Abweichung zwischen der von mir gegebenen Darstellung der Theorie
und Classen’s ist, dass er den Ortssinn der Netzhaut und die Projection in das Sehfeld als
ursprünglich gegeben und nicht erworben betrachtet. Wenn aber die Lage der einzelnen
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