§• 30.
OPTISCHER SINN DER RELIEFBILDER.
659
entsprechen können, so wird man dieselbe auch bei vermehrter oder vermin¬
derter Convergenz eben sehen. In einem solchen Falle können die Netzhaut¬
bilder nur einem bestimmten Objecte angehören, und die Anschauung dieses
Objects entsteht auch bei unpassender Convergenz. Aehnlich verhält es sich
bei den Fäden mit Perlen; auch da ist die Wirkung der vermehrten Conver¬
genz und Divergenz sehr unbedeutend, und inan beobachtet hauptsächlich nur
die telestereoskopische Wirkung der scheinbar vermehrten Distanz der Ge¬
sichtspunkte.
Ganz anders wirken die gewöhnlichen einfachen Prismen von schwachem
brechenden Winkel. Wenn man durch die Mitte eines solchen unter dem Mi¬
nimum der Ablenkung blickt, die brechende Kante der Nase zugekehrt, so
erscheinen alle Objecte nach innen abgelenkt und erfordern erhöhte Convergenz
zu ihrer Betrachtung. Aber gleichzeitig erscheinen alle Verticallinien nasenwärts
concav, die schläfenwärts gelegenen Theile des Bildes zu schmal, die nasen¬
wärts gelegenen zu breit, Horizontallinien dagegen nach der Nasenseite diver-
girehd. Daraus folgt, dass, wenn das rechte Auge durch ein solches Prisma
blickt, die Objecte zweiäugig gesehen, näher erscheinen und so, dass sowohl
ihre geraden Horizontallinien wie ihre geraden Verticallinien gegen den Beschauer
concav erscheinen. Durch die scheinbare Vergrösserung der verticalen Abstände
all der inneren Seite werden die Unterschiede der natürlichen Projection,
wonach die jenseits der Medianebene gelegenen Theile des Objects scheinbar
kleiner sind, zum Tbeil oder ganz ausgeglichen. Das Object erscheint ungefähr
in derselben Entfernung wie vorher, oder auch trotz der vermehrten Conver¬
genz etwas grösser und ferner. Unter diesen Umständen kann die Verbreiterung
der nasenwärts gelegenen und Verschmälerung der schläfenwärts gelegenen
Theile des Bildes nur auf eine concave Wölbung desselben bezogen werden.
Die Krümmung der Verticallinien bedingt die scheinbare" Concavität derselben.
Kehrt man die scharfe Kante .des Prisma nach aussen, so erscheinen ebene
Objecte im Gegentheil convex gegen den Beobachter.
Mit den hier betrachteten Erscheinungen, wobei zweiäugig Bilder von
Objecten bei bald vermehrter, bald verminderter Convergenz der Augen be¬
trachtet werden, hängt auch die Möglichkeit zusammen, Reliefbilder der Objecte
zu construirai, welche bei geringerer Entfernung und bei geringeren Tiefendimen¬
sionen als das Original doch den Eindruck des letzteren nach seinen wirklichen
Formen und Dimensionen, seiner wirklichen Beschattung, und zwar nicht nur
für monoculare, sondern selbst für binoculare Betrachtung nachahmen, indem
sie annähernd auch dieselben Unterschiede beider Netzhautbilder hersteilen,
wie sie die Betrachtung des Originals selbst ergeben würde. Ehen deshalb ist
ein Reliefbild aus dem richtigen Standpunkte angesehen eine sehr viel voll¬
kommenere Art der Nachahmung, wenigstens der Form des Objects, als es das
vollkommenste ebene Bild je sein kann. Es gehören dahin nicht nur die Bas¬
reliefs und Hautreliefs der Sculptur, welche menschliche Köpfe, Figuren und
Figurengruppen darstellen, sondern auch Theaterdecorationen, welche Landschaften
oder Zimmer, Kirchenportale, welche perspectivisch verkürzte Säulenhallen dar¬
stellen u. s. w.
42 *