580 DRITTER ABSCHNITT. DIE LEHRE VON DEN GESICHTSWAHRNEHMUNGEN. §. 28.
ganze Fläche in der Farbe des Randes zu sehen, selbst wenn von diesem nur
ein schmaler Streif ausserhalb der Lücke liegt. Ja, wenn die Kreisscheibe von
engbedrucktem Papier geschnitten ist, so glaube ich sie in ganzer Ausdehnung
mit Buchstaben bedeckt zu sehen, bis ich die Aufmerksamkeit genau auf sie
richte, wo ich dann erkenne, dass ich in ihrer Mitte nichts unterscheide.
Funcke berichtet, dass wenn die Lücke auf bedrucktes Papier fällt und er
sich diesseits und jenseits derselben zwei hervorstechende Buchstaben gemerkt
hat, diese einander genähert erscheinen. Auch in diesem Falle sehe ich die
Buchstaben in ihrer richtigen Distanz.
Diese Widersprüche lassen sich wohl daraus erklären, dass wir als Er¬
gänzung für die Beurtheilung der räumlichen Dimensionen des Sehfeldes, welche
hauptsächlich durch die Bewegungen des Auges erlernt ist, auch noch die
WEBEü’schen Empfindungskreise berücksichtigen, namentlich für kleine, einander
nahe Objecte, für welche die erstere Art der Beurtheilung vielleicht unvollkom¬
menere Data giebt. Ob zwei seitlich liegende schwarze Punkte, die auf ver¬
schiedenen Seiten des Fixationspunktes sich befinden, von ihm gleich weit ab¬
stehen oder nicht, können wir nicht mit derselben Genauigkeit entscheiden, als
wenn beide auf derselben Seite und nahe aneinander liegen und zwischen ihnen
noch ein weisser Fleck des Grundes sichtbar ist, dann ist es nicht zweifelhaft,
welcher dem Fixationspunkt näher ist, welcher ferner.
Nun stimmen in den übrigen Theilen des Sehfeldes beiderlei Bestimmungs¬
weisen nothwendig überein; in der Gegend des blinden Flecks dagegen fehlen
die Eindrücke, welche wir zwischen denen des Randes der Lücke erwarten
sollten und welche das sinnliche Zeichen ihrer räumlichen Trennung sein soll¬
ten. Andererseits können wir mittels der Bewegungen des Auges doch richtige
Erfahrungen über die wirkliche Lage der Randpunkte der Lücke machen und
sie als getrennt erkennen. Daher ist es möglich, dass verschiedene Beobachter,
die bald mehr auf dieses, bald mehr auf jenes Moment zu achten gewohnt sind,
verschieden urtheilen, und dass selbst bei einem und demselben Beobachter
nebensächliche Verhältnisse für das eine oder andere den Ausschlag geben.
Ich habe früher bemerkt, dass im Allgemeinen die Lücke eines jeden Auges
beim gewöhnlichen zweiäugigen Sehen ausgefüllt wird durch das, was das an¬
dere Auge an jener Stelle des Sehfeldes wahrnimmt. Diese Regel erleidet aber,
wie Volkmann gezeigt hat, ebenfalls Ausnahmen. Bezeichnen wir den blinden
Fleck des einen Auges mit a, die entsprechende Stelle des andern Auges mit a,
die Umgebung von a mit b, die von a mit ß, die den beiden Stellen a und u
entsprechende Stelle im Gesichtsfelde mit A, ihre Umgebung mit B, so lassen
sich leicht folgende Versuche machen:
1. Wir sehen* mit dem ersten Auge auf weisses Papier und schliessen das
andere Auge, so empfinden wir
auf a:
Nichts,
auf b :
Weiss
auf a:
Dunkel,
auf ß:
Dunkel
und meinen zu sehen
auf A:
Weiss,
auf B:
Weiss.