§. 28. TÄUSCHUNGEN DES AUGENMAASSES. 561
Eine zweite Annahme, die zur Erklärung der Ausmessung des Seh¬
feldes gebraucht worden ist, ist von mehreren Physiologen aus E. H. Weber’s
Versuchen über die Empfindungskreise der Haut und der Netzhaut hergeleitet
worden, freilich wohl kaum, wie mir scheint, im Sinne dieses Autors 3. Danach
sollen die kleinsten räumlich unterscheidbaren Ausdehnungen als Einheiten .des
Flächenmaasses benutzt werden. Räumliche Trennung zweier Eindrücke kann,
wie schon auf Seite 215 erörtert wurde, nur wahrgenommen werden, wenn
zwischen zwei erregten Flächenelenienten ein nicht erregtes oder anders erregtes
übrigbleibt und wahrgenommen werden kann. Die Grösse der kleinsten unter¬
scheidbaren Flächenelemente ist nun an verschiedenen Theilen der Netzhaut so¬
wohl, wie ausser Weber auch Aubert und Förster erwiesen haben, als auch
an verschiedenen Stellen der Haut sehr verschieden, so dass die Entfernung
der erregten Punkte an verschiedenen Theilen sehr verschieden gross gewählt
werden muss, wenn man sie als zwei unterscheiden soll. Setzt man also zwei
Zirkelspitzen auf eine Stelle der Haut, wo ihre Distanz kleiner als die kleinsten
unterscheidbaren Entfernungen ist, so verschmelzen ihre Eindrücke in einen,
man glaubt nur mit einer Spitze berührt zu sein. Setzt man sie auf eine
Stelle auf, wo ihre gesonderte Unterscheidung nur undeutlich erfolgt, so ist
man allerdings geneigt, sie für näher zu halten, als sie wirklich sind; setzt
man sie endlich an feiner unterscheidenden Theilen auf, wo ihre Trennung
leicht erkannt wird, so erkennt man, wie ich wenigstens finde, richtig ihre
wahre Distanz. So erscheinen mir also zum Beispiel Zirkelspitzen von vier
Linien Distanz an der Zungenspitze, an der Fingerspitze, an den Lippen in
gleicher Entfernung von einander, obgleich an den Lippen ein Abstand von
1j.1 Linie unterschieden wird, an der Fingerspitze dagegen nur einer von 1, an den
Lippen von 2 Linien. Dagegen am Kinn und unterhalb des Kinnes, wo die
Unterscheidung der Spitzen bei der genannten Distanz schwierig und unsicher
wird, erscheinen sie mir, wenn ich sie unterscheide, wohl etwas näher zusammen¬
gerückt zu sein, als sie wirklich sind, nach dem allgemeinen Gesetze des Em¬
pfindens, wonach deutlich wahrnehmbare Unterschiede grösser erscheinen als
undeutlich wahrnehmbare. Aber doch scheinen sie mir am Halse, so lange ich
sie überhaupt noch unterscheiden kann, niemals so nahe zu sein, als wenn
ich die Spitzen eine halbe Linie oder eine Linie von einander entfernt, an die
Zungenspitze ansetze. Die kleinsten unterscheidbaren Grössen erscheinen also
keineswegs an allen Stellen der Haut gleich gross, sondern sie erscheinen sehr
verschieden gross.
Ebenso verhält es sich auf der Netzhaut. Wenn ich zwei kleine schwarze
Kreise von 2 Millimeter Durchmesser und ebensoviel gegenseitigem Abstand
im indirecten Sehen betrachte, und eine Stelle suche, wo sie zuerst mir an¬
fangen sichtbar zu werden, so erscheinen sie mir dort keineswegs näher an¬
einanderzustehn, als sie wirklich sind, und jedenfalls nicht im entferntesten so
nahe, als zwei mit dem Centrum der Netzhaut fixirte Punkte, die an der
Grenze der Unterscheidbarkeit sind.
1 E. H. Weber über den Raumsinn und die Empßndungskreise in der Haut und im Auge. Berichte der
Säehs. Ges. 1852, S. 85 —164.
Encyklop. d. Physik. IX. Helmholtz, Physiolog. Optik. 36