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DRITTER ABSCHNITT. DIE LEHRE VON DEN GESICHTSWAHRNEHMUNGEN.
§• 26.
Da indessen nicht ganz vermieden werden kann, von den in den Sinnes¬
wahrnehmungen wirksamen äeelenthätigkeiten zu reden, wenn man einen über¬
sichtlichen Zusammenhang der Erscheinungen gewinnen, und die Thatsachen
nicht unverbunden an einander reihen will, so will ich, um wenigstens Missver¬
ständnisse meiner Meinung zu verhüten, im Anhang dieses Paragraphen ausein¬
andersetzen, was ich über die besagten Seelenthätigkeiten folgern zu dürfen
glaube. Da indessen, wie die Erfahrung lehrt, in so’ abstracten Folgerungen
selten Uebereinstimmung zwischen den Menschen zu erzielen ist, und Denker
vom grössten Scharfsinn, namentlich Kant, schon längst diese Verhältnisse
richtig und in strengen Beweisen auseinandergesetzt haben, ohne dass sie eine
dauernde und allgemeine Uebereinstimmung der Gebildeten darüber zu Stande
bringen konnten, so werde ich versuchen die späteren der Lehre von den Ge¬
sichtswahrnehmungen speciell gewidmeten Paragraphen von allen Ansichten über
Seelenthätigkeit frei zu erhalten, welche in das Bereich der zwischen den ver¬
schiedenen philosophischen Schulen bisher und vielleicht für immer streitigen
Punkte fallen, um nicht die für die Thatsachen zu gewinnende mögliche Ueber¬
einstimmung durch Streitigkeiten über abstracte Sätze zu stören, welche in das
uns vorliegende Geschäft nicht nothwendig hineingezogen zu werden brauchen.
Ich will hier nur zunächst den Leser vorbereiten auf gewisse allgemeine
Eigenthümlichkeiten der in den Sinneswahrnehmungen wirksamen Seelenthätig¬
keiten, welche uns bei der Behandlung der verschiedenen Gegenstände immer
wieder begegnen werden, und in dem einzelnen Falle oft paradox und unglaub¬
lich erscheinen, wenn man sich nicht ihre allgemeine Bedeutung und ihre aus¬
gedehnte Wirksamkeit klar gemacht hat.
Die allgemeine Regel, durch welche sich die Gesichtsvorstellungen bestimmen,
die wir bilden, wenn unter irgend welchen Bedingungen oder mit Hülfe von
optischen Instrumenten ein Eindruck auf das Auge gemacht worden ist, ist die,
dass wir stets solche Objecte als im Gesichtsfelde vorhanden uns
vorstellen, wie sie vorhanden sein müssten, um unter den gewöhn¬
lichen normalen Bedingungen des Gebrauchs unserer Augen den¬
selben Eindruck auf den Nervenapparat hervorzubringen. Um ein
Beispiel zu benutzen, von dem wir schon gesprochen haben, nehmen wir an,
es sei der Augapfel am äusseren Augenwinkel mechanisch gereizt worden. Wir
glauben dann eine Lichterscheinung in der Richtung des Nasenrückens im Ge¬
sichtsfelde vor uns zu sehen. Wenn bei dem gewöhnlichen Gebrauche unserer
Augen, wo sie durch von aussen kommendes Licht erregt werden, eine Erregung
der Netzhaut in der Gegend des äusseren Augenwinkels zu Stande kommen soll,
muss in der That das äussere Licht von der Gegend des Nasenrückens her in
das Auge fallen. Es ist also der eben aufgestellten Regel gemäss, dass wir
in solchem Falle ein lichtes Object in die genannte Stelle des Gesichtsfeldes
hinein versetzen, trotzdem der mechanische Reiz hierbei weder von vorn vom
Gesichtsfelde her, noch von der Nasenseite des Auges, sondern im Gegentheil
von der äusseren Fläche des Augapfels und mehr von hinten her einwirkt. Wir
werden im Folgenden die allgemeine Gültigkeit der gegebenen Regel in einer
grossen Zahl von Fällen noch kennen lernen.