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ZWEITER ABSCHNITT. DIE LEHRE VON DEN GESICHTSEMPFINDUNGEN.
§. SO.
Das einfache Violett erregt stark die gleichnamigen, schwach die anderen
Fasern; Empfindung: violett.
Erregung aller Fasern von ziemlich gleicher Stärke giebt die Empfindung
von Weiss oder weissliclien Farben.
Vielleicht nimmt bei dieser Hypothese zunächst mancher daran Anstoss, dass
die Zahl der vorauszusetzenden Nervenfasern und Nervenendigungen verdreifacht
werden muss, im Vergleich mit der gewöhnlichen Annahme, wo man jede
einzelne Nervenfaser alle möglichen Farbenerregungen leiten lässt. Ich glaube
aber nicht, dass in dieser Beziehung die Annahme von Young mit den anato¬
mischen Thatsachen in Widerspruch steht; da wir über die Zahl der leitenden
Fasern nichts wissen, und noch eine Menge mikroskopischer Elemente (Zellen,
Körner, Stäbchen) vorhanden sind, denen wir bisher keine specielle Function
anweisen konnten. Andererseits ist dies auch nicht das Wesentliche der Hypo¬
these von Young. Das scheint mir vielmehr darin zu liegen, dass die Farben-
empfindungen vorgestellt werden, als zusammengesetzt aus drei von einander
vollständig unabhängigen Vorgängen in der Nervensubstanz. Diese Unabhängig¬
keit zeigt sich nicht nur bei den hier vorliegenden Erscheinungen, sondern auch
bei denen der Ermüdung des Sehnervenapparates. Es würde nicht gerade nötliig
sein, verschiedene Nervenfasern für diese verschiedenen Empfindungen anzu¬
nehmen. Man würde dieselben Vortheile, welche die Hypothese von Young für
die Erklärungen bietet, gewinnen, wenn man die Annahme machte, dass inner¬
halb jeder einzelnen Faser dreierlei von einander verschiedene und von einander
unabhängige Thätigkeiten auftreten könnten. Da aber die ursprüngliche von
Young aufgestellte Form dieser Hypothese eine grössere Bestimmtheit der Vor¬
stellung und des Ausdrucks giebt, als eine solche Modification derselben er¬
lauben würde, so wollen wir sie, wenn auch nur im Interesse der Darstellung,
in ihrer ursprünglichen handgreiflicheren Gestalt beibehalten. Es kommt noch
hinzu, dass die physikalischen Erscheinungen der Nervenerregung, nämlich die
elektromotorischen, uns in sensiblen wie in motorischen Nerven nichts von
einer solchen Verschiedenartigkeit der Thätigkeit merken lassen, wie sie vor¬
handen sein muss, wenn jede Sehnervenfaser sämmtliche Farbenempfindungen
leiten soll. Durch Young’s Hypothese wird es möglich, auch in dieser Be¬
ziehung die einfachen Vorstellungen über den Mechanismus der Reizung und
jhre Fortleitung, die wir uns zunächst durch das Studium der Phänomene an
den motorischen Fasern gebildet haben, direct auf den Sehnerven zu übertragen,
was nicht anginge, wenn wir uns vorstellten, dass jede Sehnervenfaser in drei
qualitativ verschiedene Reizungszustände solle gerathen können, die sich gegen¬
seitig nicht störten. Young’s Hypothese ist nur eine speciellere Durchführung
des Gesetzes von den specifischen Sinnesenergien. Wie Tastempfindung und
Gesichtsempfindung des Auges nachweislich verschiedenen Nervenfasern zukommt,
wird hier dasselbe auch für die Empfindung der verschiedenen Grundfarben an¬
genommen.
Die Wahl der drei Grundfarben hat zunächst etwas Willkührliches. Es
könnten beliebig jede drei Farben gewählt werden, aus denen Weiss zusammen¬
gesetzt werden kann. Young ist wohl durch die Rücksicht geleitet worden,