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ERSTER ABSCHNITT. DIE DIOPTRIE DES AUGES.
§. 13.
Fadenkreuze näher schieben musste, um dies deutlich sehen zu können, wenn
er den violetten Theil des Spectrum im Gesichtsfelde hatte, als wenn er den
rothen betrachtete. Indem er mit einem Auge einen äusseren Gegenstand fixirte,
mit dem anderen den Faden im Fernrohre betrachtete, stellte er die Ocularlinse
so, dass ihm der Faden ebenso deutlich wie dag äussere Object erschien, und
mass, um wie viel die Linse verschoben werden musste, um den Faden in zwei
verschiedenen Farben gleich deutlich zu sehen. Mit Berücksichtigung der schon
vorher gemessenen chromatischen Abweichung der Ocularlinse selbst konnte er
dann berechnen, welches die entsprechenden Sehweiten des Auges seien. Er
fand bei diesen Versuchen, dass ein Auge, welches ein unendlich entferntes
Object deutlich sieht, dessen Licht der Linie C des Sonnenspectrum, also der
Grenze zwischen Roth und Orange entspricht, bei demselben Accommodations-
zustande ein Object, dessen Licht der Farbe der Linie G (Grenze von Indigblau
und Violett) entspräche, auf 18 bis 24 Par. Zoll nähern müsste, um es deutlich
zu sehen.
Ich habe an meinen eigenen Augen ähnliche Resultate erhalten. Ich liess
verschiedenfarbiges, mittels eines Prisma isolirtes Licht durch eine punktförmige
Oeffnung eines dunklen Schirms fallen, und suchte dann die grösste Entfernung
auf, aus der ich die kleine Oeffnung noch punktförmig sehen konnte. Die grösste
Sehweite meines Anges für rothes Licht beträgt gegen 8 Fuss, für violettes
I '/2 Fuss und für das brechbarste überviolette Licht der Sonne, welches durch
Abblendung des helleren Lichts des Spectrum sichtbar gemacht werden kann,
nur einige Zolle.
Auffallend bemerkt man die Verschiedenheit der Sehweiten, wenn man ein
regelmässig rechteckiges, auf einen weissen Schirm projicirtes prismatisches
Spectrum aus einiger Entfernung betrachtet. Während man das rothe Ende noch
ziemlich gut in seiner wirklichen Form erkennt, erscheint das violette als eine
Zerstreuungsfigur (die für meine Augen schwalbenschwanzförmig ist).
Das im Vergleiche mit künstlichen optischen Instrumenten ziemlich geringe
Zerstreuungsvermögen des menschlichen Auges erklärt sich daraus, dass die
Dispersion des Wassers und der meisten wässrigen Lösungen überhaupt viel
geringer ist als die des Glases. Da die Brechungsverhältnisse der optischen
Medien des Auges meist nicht beträchtlich von dem des Wassers abweichen,
so scheint es wahrscheinlich zu sein, dass wenigstens die wässrige Feuchtigkeit
und der Glaskörper auch nahezu dasselbe Zerstreuungsvermögen wie das Wasser
haben werden. Ich habe deshalb die Dispersion für Listing’s reducirtes Auge
mit einer brechenden Fläche berechnet unter der Annahme, dass Wasser darin
als brechende Substanz gebraucht sei. Für die von Fraunhofer bei seinen Ver¬
suchen gebrauchten Strahlen sind die Brechungsverhältnisse des Wassers folgende :
für das rothe Licht der Linie C 1,331705
für das violette der Linie G 1,341285.
Der Radius der einen brechenden Fläche von Listing’s reducirtem Auge ist
5,1248 Mm. Daraus ergeben sich die Brennweiten im Innern des Auges:
im Roth 20,574 Mm.
im Violett 20,140 Mm.