3. Kapitel. Psychische und physische Energie.
Analogien und Gegensätze.
In der Tat läßt sich das Wesen der Musik und psychischer Kräfte
weniger durch Vergleiche mit andern Sinnesgebieten erfassen
als durch Vergleiche mit dem einzigen andern Kraftgebiet, das
wir kennen: der Physik.
Wenn aber überhaupt von psychischen Energien und von Be¬
griffen wie Spannung, Bewegung, Schwere, Auftrieb, Druckkraft
usw. gesprochen wird, so ist zunächst auf die grundsätzliche Frage
nach dem Charakter dieser Kräfte zurückzukommen: liegt eine
Gleichheit mit physikalischen Kräften oder nur eine Analogie-Er¬
scheinung vor? Die Antwort kann nicht schwer sein. Schon die
einfachste Erscheinungsform, die Energie der Linie, beruht in
einer andern Art der Bewegung: sie gemahnt zwar an die physi¬
kalische ganz allgemein in ihrem Impuls, ferner in den Schwankungs¬
möglichkeiten ihrer Intensität, die den ganzen melodischen Reich¬
tum erst bedingen; überhaupt legen die ganzen Ablaufs¬
formen des Kraftverlaufs Vergleiche nahe. Die Art der Verdich¬
tung von Klängen, des Ineinanderdringens wie der Zerteilung
und viele Erscheinungsformen gemahnen an Vorgänge der äußeren
Natur. Aber was die musikalischen Energien von den physika¬
lischen unterscheidet, sind ganz grundlegende Dinge: zunächst die
einzigartige Materie, in der sie sich darstellen, sowie die Bindung
an einen ganz andern „Raum“. Schon darum kann nur von ge¬
wisser Gleichartigkeit die Rede sein, und es ist an wesentlich
andere, nur dem psychischen Leben eigene Urerscheinungen zu
denken. Somit unterscheiden sich diese Kräfte schon durch ein
anderes Verhältnis zum wahrnehmenden Subjekt: was in der
äußern Welt als Kraftvorgang erkannt wird und ihrer Materie als
Eigenschaft innewohnt, lebt im musikalischen Fühlen als Drang.
Die Analogien sind daher lediglich Hilfsmittel der Erkenntnis,
die mit aller Vorsicht anzuwenden sind; man darf aus ihnen so¬
wenig etwas ableiten wie aus Vergleichen, wohl aber kann man
eben durch Vergleich die Eigentümlichkeiten viel schärfer er¬
kennen. Bei allen der Physik entnommenen Ausdrücken und Ana¬
logien muß man daher auch die Unterscheidungen beachten,
ja gerade die Gegensätze führen oft zu den wesentlichsten Auf¬
klärungen, wie sich wiederholt zeigen wird.
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