Ontogenese und Morphologie der Sphingiden-Zeichnung.
7.5
111. Biologischer Werth der Zeichnung.
Nachdem ich die Entwicklung der Raupenzeichnung, soweit
möglich, ihrer äussern Erscheinung nach beschrieben und dann die
ihr zu Grunde liegenden formalen Entwicklungsgesetze daraus ab¬
geleitet habe, gelange ich zur Hauptaufgabe, zu dem Versuch, die
tieferen, bewegenden Ursachen aufzudecken, welche die Zeichnung
überhaupt hervorrufen.
Zwei Möglichkeiten liegen hier vor, dieselben, welche sich uns
in Bezug auf die Entwicklung des organischen Lebens im Grossen
und Ganzen darbieten. Entweder die so eigenthümlichen, ver¬
wickelten und für uns scheinbar unverständlichen Charaktere, wel¬
chen wir den Namen einer Zeichnung geben, verdanken ihre Ent¬
stehung der direkten und indirekten Einwirkung langsam sich
ändernder Lebensbedingungen — oder sie entstehen aus rein
innern, im Organismus selbst gelegenen Ursachen, aus einer phy-
letischen Lebenskraft. Ich habe in der Einleitung schon
auseinandergesetzt, warum mir grade die Raupenzeichnung ein so
besonders günstiges Object zur Entscheidung dieser Frage zu sein
schien, oder genauer warum mir in Bezug auf dieses Object grade
die Entscheidung leichter möglich zu sein schien, als in Bezug auf
andere. Ich will es hier nicht wiederholen.
Die ganze Untersuchung wäre von mir nicht angestellt worden,
wenn ich zu Denjenigen gehörte, welche sich von vornherein zur
Allmacht der Naturzüchtung bekennen, wie zu einem Glaubens¬
artikel oder einem wissenschaftlichen Axiom. Eine Frage, die nur
auf inductivem Wege einer Lösung sich nähern kann, darf unmög¬
lich nach den ersten Proben, die günstig für dieses Princip aus¬
fielen, nun als gelöst und weitere Proben als überflüssig angesehen
werden.
Gewiss hat die Annahme einer geheimnissvoll wirkenden
phyletischen Kraft für unsern nach Erkenntniss strebenden Geist
etwas sehr Unbefriedigendes ; jedenfalls ist dieselbe aber nicht
dadurch als widerlegt anzusehen, dass man die Entstehung
Hunderter von Charakteren auf Naturzüchtung zurückführen
kann, die vieler anderer auf direkte Einwirkung äusserer
Lebensbedingungen. Soll die absolute Abhängigkeit
der Entwicklung der organischen Welt von den