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Zeugnissen, bald wurde sie aber wegen Betrugs und Diebstahls arretirt, musste jedoch
wieder ins Spital transferirt werden, da sie eine grosse Anzahl von Anfällen bekam.
Im December 1886 kam sie wieder zur Polizei wegen Diebstahls, nachdem aber bei
der Verhandlung ihr Benehmen den Verdacht einer Psychose erregte, berief das Ge¬
richt Prof. Ajtay, der die Merkmale der Hysterie und die leichte Hypnotisirbarkeit
der J. nachwiess. Durch die freundliche Güte des Hrn. Prof. Ajtay kam dann die
J. in die Klinik, wo sie sich in den ersten Monaten sehr gut aufführte, die Anfälle
waren in Anfang ziemlich häufig, wurden aber in kurzer Zeit bedeutend seltener.
J. hat ein regelmässiges, blasses Gesicht ohne stärkere Züge, kurz geschnittene
Haare, in der Mittellinie getheilt. Ihr Gesicht hat weder einen männlichen, noch
einen ausgesprochen weiblichen Character; ihr Körperbau, bei der Aufnahme nicht
besonders wohlgenährt, zeigt regelmässige weibliche Bildung. Brüste ziemlich gross,
Genitalien ganz normal entwickelt. Die Kopfbildung zeigt keine grösseren Abnor¬
mitäten, Umfang 552 mm bei 159 cm Körperhöhe. — Vollständige, rechtsseitige
Anästhesie. Am rechten Auge bemerkt sie die Bewegungen der Hand nur im Cen¬
trum, der übrige Theil ihres Gesichtsfeldes ist unempfindlich. Am linken Auge ist
das Gesichtsfeld auch sehr eingeschränkt (nach i. 10°, a. 18°, o. 15°, u. 20°), für
Farben noch mehr (Roth: i. 5°, a. 10°, Blau 2—3°, desgleichen Gelb; Grün erkennt
sie nur aus der Nähe im Centrum). Motilität normal. Typische Anfälle von grosser
Hystero-Bpilepsie.
Die Menstruation hatte die Bat. nur sehr selten, während ihres klinischen Auf¬
enthaltes doch einigemal. Perverser Sexualtrieb wurde schon früher, noch während
den erwähnten Spitalsaufenthalten bei ihr wahrgenommen. In der Klinik verliebte
sie sich auch in eine ihrer Nachbarinnen, die aber in kurzer Zeit die Abtheilung
verliess. — J. schrieb ihr dann sehr sentimentale Briefe. Gegen Männer scheint
sie indifferent zu sein, obwohl sie Schamgefühl hat, und ihre erste Liebe in gutem
Gedächtnisse hält.
Es scheint, dass ihr moralisches und intellectuelles Benehmen Veränderungen
unterworfen ist, so wie überhaupt der Zustand der Hysterischen veränderlich ist. Es
giebt Zeiten bei ihr, wo sie in Anbetracht ihrer Bildung intellectuell sehr viel leisten
kann, sie schreibt Briefe, die orthographisch fast fehlerlos, im Styl, im Gedanken
sehr schön sind.
Die Hypnotisation gelang sehr leicht und zwar am einfachsten durch die ganz
im gewöhnlichen Tone ausgesprochene Worte: „sie schlafen“, oder plötzlich durch
einen Zuruf: „hopp“! Im Momente ist sie hypnotisirt und zeigt dann die charac-
teristisclie Katalepsie, sie verbleibt in der angegebenen Stellung. Puls und Respiration
sind ein wenig verlangsamt. Wenn man sie anredet, so antwortet sie und ist sehr
suggestionirbar und zeigt dann alle Zeichen des Somnambulismus — ohne aber, dass
zwischen diesen zwei Arten ein bestimmter Uebergang wäre, neben den reinsten
Symptomen des Somnambulismus behält sie kataleptisch eino angegebene Stellung.
(Schluss folgt.)
2. Ein Kinesiaesthesiometer, nebst einigen Bemerkungen
über den Muskelsinn.
Von Professor E. Hitzig in Halle.
(Schluss.)
Schliesslich entsteht die Frage, welche Apperceptiouen es denn nun eigent¬
lich sind, deren Schärfe durch den Apparat zitfermässig bestimmt werden soll,
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