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Kap. XXIII. Der Raum der Gesichtswahrnehmnng.
Psychologie 2 Anfl. II, 108, berufe. „Wenn man zu einer gege¬
benen Geraden eine andere in gleicher Richtung zieht, der man
nach dem Äugenmaass dieselbe Grösse geben will, so macht man
dieselbe häufiger zu klein als zu gross.“ Ich ziehe eine Linie B,
die einer Linie A gleich sein soll, nach dem Äugenmaass, dies heisst
aber, ich ziehe sie nach dem Vorstellungsbild, das ich von  gewon¬
nen habe und auf die Stelle des B übertrage. Fällt B zu klein aus,
so war notwendig das Vorstellungsbild zu klein. Nun stehen aber
Unterschiede, die in einer Raumgrösse sich finden, der Verkleine¬
rung, die eine engere Verschmelzung der einzelnen Teile innerhalb
der Vorstellung involvirt, entgegen, sowie überhaupt Unterschiede der
Enge der Verschmelzung entgegenstehen. Darnach gilt Folgendes.
Indem ich das Vorstellungsbild von bc auf ab übertrage,
schrumpft es um ein Gewisses zusammen. Um ebenso viel schrumpfte
a b bei der Uebertragung auf b c zusammen, wenn die Distanz
ab gleichfalls leer wäre. Dies doppelseitige Zusammenschrumpfen
könnte das Bewusstsein der Gleichheit nicht stören. Ist nun aber
die Distanz ab durch Punkte ausgefllllt, also mit Unterschieden
versehen, die die Verkleinerung vermindern, so ergibt sich ein
Missverhältnis: die geringere Verkleinerung des ab wird als
solche erkannt; ab also erscheint grösser. — Ich brauche nicht
zu sagen, dass jedes Vergleichen der beiden Distanzen die wechsel¬
seitige Uebertragung in der Vorstellung notwendig in sich schliesst
Neben dem besprochenen Falle der Täuschung des Augen-
maasses, und manchfachen Fällen, die ihm analog sind, steht
eine andere Gattung, die eine andere Erklärung erfordert. Bei
ihr sind Bewegungen mitwirksam, aber in einer Weise, in der wir
ihre Mitwirksamkeit bereits zugestanden haben. Veränderungen
eines Wahrgenommenen, die allmäblig und genügend langsam sich
vollziehen, sind wir geneigt zu tibersehen oder wenigstens zu
unterschätzen. Ein Ton kann aliraählig um ganze Töne sich än¬
dern, ohne dass wir der Aenderung uns bewusst werden. Fällt
sie uns endlich auf, so überzeugen wir uns doch nur schwer, dass
sie so beträchtlich gewesen sei, wie sie war. Der Grund für
Derartiges leuchtet ein. Die in der Wahrnehmung sich unmittelbar
folgenden Momente können wegen der tatsächlichen geringen Ver¬
schiedenheit kein starkes UnteTsehiedsbewusstsein ergeben, jeder
Moment aber, der nur noch als Erinnerungsbild besteht, schmiegt
sich vermöge des eben erwähnten schwankenden Charakters aller