Stumpf: Die Struktur der Vokale
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den europäischen zu afrikanischen und asiatischen Sprachen, so üben
dort vielfach bestimmte Intervalle eine durchaus maßgebende, die Be¬
deutung bestimmende Funktion, während sich anderseits das Singen
durch Anwendung minimaler, ja gleitender Übergänge dem Sprechen
nähert.
Auch genetisch betrachtet können die Sprachlaute nicht wohl
dem Wesen nach anders beschaffen sein als die gesungenen, da der¬
selbe Kehlkopf, dieselben Muskelinnervationen, dieselben Resonanz¬
räume in gleicher Stellung für den nämlichen Vokal in beiden Fällen
gebraucht werden.
Es ist daher selbstverständlich, daß die gesprochenen Vokale
sowohl isoliert als im Zusammenhang der Rede keine andere akustische
Zusammensetzung haben als die gesungenen. Die Tonhöhen der Grund¬
töne pflegen sich bekanntlich bei normalen männlichen Individuen und
affektloser Rede um c, bei weiblichen um c1 herum zu bewegen. Die obigen
Teiltontabellen haben also auch für gesprochene Vokale unveränderte
Geltung, nur führen eben die Grundtöne samt ihren harmonischen Teil¬
tönen die entsprechenden Schwankungen aus. Gerade diese Schwan¬
kungen, die selbst der affektlosen Rede Leben und Seele geben, dürften
zugleich mit zu der größeren Verständlichkeit gesprochener gegenüber
gesungenen Vokalen beitragen, indem dadurch die ganze Formantregion
eines Vokals gleichsam abgestreift wird. Das so erfolgende stetige
Durchlaufen ist jener gleichzeitigen Erfüllung, wie sie bei den Flüster¬
vokalen stattfindet, äquivalent.
Nachbilden freilich ließe sich der für die Sprache charakteristische
freie und gleitende Wechsel der Tonhöhe nur durch eine ungeheure
Komplikation der Einrichtungen. Wir müssen uns hier mit der deduk¬
tiven Gewißheit begnügen.
Dagegen ist es leicht möglich, Interferenzversuche auch auf
gesprochene Laute, Silben und Wörter auszudehnen. Man braucht
nur die Formantregion eines Vokales auszuschalten, so wird er unver¬
ständlich, auf welchem Grundton er auch gesprochen werde. Wird die
Tonstrecke e2—ausgeschaltet, so reduziert sich alles Sprechen auf ein
dumpfes Murmeln, worin nur U und 0 erkennbar bleiben. Und so läßt
sich jeder beliebige Sprachdefekt, auch bezüglich der Konsonanten,
erzeugen, der durch den Wegfall höherer gegenüber den tieferen Bestand¬
teilen bedingt ist. Das Umgekehrte, die Vernichtung bloß der tieferen,
ist nicht möglich wegen der multiplen Interferenzwirkung.
Aber auch synthetische Versuche können, obgleich sie nicht zur
Nachbildung des Sprechens selbst führen, zur Prüfung bestimmter die
Sprache und das Sprachverständnis betreffender Theorien herangezogen
werden. Beispielsweise läßt sich über die' Lehre Bezolds und seiner