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gesammte psychische Leben ausdehnen. Es bleibe ganz dahin¬
gestellt, ob vielleicht die nähere Analyse ergeben sollte, dass auch
die Urtheile, Gefühle, Willensakte sich psychologisch aus Sinnes¬
empfindungen und ihren Erinnerungsbildern zusammensetzen und
dementsprechend die physischen Gehirnerregungen auf isolirte
periphere Reizungen und ihre Nachwirkungen zurückgeführt wTerden
können. Auch wer das nicht zugiebt, auch wer die Elemente von
Urtheil, Gefühl und Wille durchaus nicht den sinnlichen Empfin¬
dungen coordinirte, wird dennoch jene methodologischen Vortheile
anerkennen. Auch diese Elemente lassen sich ihrem Einzelinhalt
nach ja freilich aus den begleitenden elementaren Gehirnerregungen
niemals erklären, sie müssen subjektiv erlebt werden; aber ist der
causal unverständliche Zusammenhang der psychischen und phy¬
sischen Elemente erst einmal empirisch constatirt, so kann nun
die Coexistenz und Succession der psychischen Elemente erklärt
werden durch die Coexistenz und Succession der physischen Akte.
Die physischen, zurückführbar auf mechanische Axiome, sind
causal interpretirbar, die psychischen folgen einander ohne innere
Nothwendigkeit; verknüpfen wir beide, so übertragen wir den
nothwendigen Zusammenhang vom Physischen auf die
psychische Reihe, und bieten somit Erklärung, wo sonst nur Be¬
schreibung möglich war. Dass diese übertragene Nothwendigkeit in
der Abfolge psychischer Phänomene nicht in Collision gerathen darf
mit jener unmittelbaren Nothwendigkeit, die wir einem kleinen
Bruchtheil psychischer Verbindungen, nämlich den gewollten Pro¬
cessen, beilegen, versteht sich von selbst; auch dieses Gefühl der
Nothwendigkeit muss psychophysische Erklärung finden.
Kein Psychologe würde in dieser Auffassung Schwierigkeiten
erblicken, wenn nicht die theoretische Untersuchung so leicht durch
praktisch-ethische Erwägungen ersetzt zu werden pflegte. Man
fragt nicht, was wahr sei, sondern was gut und schön ist, und
corrigirt den Erkenntnisstext, wenn irgendwo sich das Gefühl regt,
dass es für unsere Seele doch eigentlich entwürdigend sei, sich
durch den Körper die Rolle souffliren zu lassen oder gar vom
Körper sich leisten zu lassen, was die Seele nicht kann. Dem
gegenüber sei daran erinnert, dass jenes Ich, für welches eine
gewisse Würde zu beanspruchen überhaupt Sinn hat, lediglich ein
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