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Zweiter Teil. Die Welt der Werte.
Handlung erhalten bleiben. In dieser künstlichen Unterdrückung
der Erwartungen und gefühlten Beziehungen liegt die einzige Un¬
wirklichkeit des in der Kunst uns dargebotenen Lebens.
Der Sinn der Unwirklichkeit. Es ist daher nicht zutreffend,
beim Kunstgenuß von einem Pendeln zwischen Wirklichkeit und
Unwirklichkeit zu sprechen. Die Wirklichkeit der Leinwand oder
des Marmors bleibt ja außer Frage. Darüber hinaus soll aber in
keinem Augenblick der Eindruck der Wirklichkeit vorgetäuscht
werden, denn das hieße, Erwartungen erwecken, und gerade die
Hemmung aller Erwartungen ist die Vorbedingung der Kunstauf¬
fassung. Dagegen müssen alle wesentlichen Empfindungen angeregt
werden, die das Ding oder Wesen, so wie es sich gegenwärtig dar¬
bietet, zu vollem Verständnis bringen ; nur hat das gar nichts mit
seiner Wirklichkeit zu tun. Wir können nicht fest genug im Auge
behalten, daß Wirklichsein im Sinne von Dasein stets ein Über-das-
Erlebnis-hinausgehen bedeutet; das Erlebte kann sich daher in
seinem ganzen inneren Reichtum und seiner Fülle darbieten und
trotzdem gänzlich unwirklich bleiben, weil es nichts als das Erlebte
sein will und nicht darüber hinaus sich dem Zusammenhang ein¬
paßt. Das Kunstwerk läßt uns somit nicht zwischen einem Wirk¬
lichen und einem Unwirklichen hin- und herschwanken, sondern
bietet uns einen Inhalt, der so reich und so erfüllt ist, wie ein Wirk¬
liches, der aber grundsätzlich als ein Unwirkliches aufgefaßt wird.
Das Unwirkliche wird dadurch nicht zum Schein, da das Wort
Schein sagen will, daß es versucht, uns als ein Wirkliches entgegen¬
zutreten. Daher liegt im Schein auch der Sinn, daß es etwas
niedrigeres, wertloseres sei als das Wirkliche. Aber die unwirkliche
Darbietung der Kunst soll niemals Wirklichkeit Vortäuschen und
steht durchaus nicht niedriger; das Unwirkliche ist nur ein schlecht¬
hin anderes, das deshalb an sich nicht wertloser ist. Das Vorwiegen
praktischer Lebensinteressen mag uns wohl verführen, das Verhält¬
nis so zu denken, als sei nur das Wirkliche positiv, das Unwirkliche
gewissermaßen negativ, als fehle dem Unwirklichen ein wesentliches
zu seiner Berechtigung, als würde es wertvoller, wenn es sich auch
noch die Wirklichkeit erflehen könnte.
Mit dem gleichen logischen Rechte können wir aber das Ver¬
hältnis auch umkehren. Das Unwirkliche ist das in seiner Darbie¬
tung sich Ganzgebende, das in sich Fertige, das auf nichts außerhalb