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welcher Substanz in den Nerven, gegen die Annahme einer
stossartigen Wirkung, bei welcher die Ermüdungserscheinung
unerklärbar wäre *), und nicht minder gegen die Annahme
natürlich durchfliessender elektrischer Ströme, die früher solch
grosse Rolle spielten. Eine chemische Erregung, die von
Teilchen zu Teilchen übertragen wird, gewährt dagegen eine
widerspruchslose, voll befriedigende Erklärung, wenn wir dabei
den wertvollen Gesichtspunkten folgen, die AVundt zur Er¬
klärung des Innervationsvorganges aufgestellt und durchgeführt
hat. Ihr Grundgedanke ist der, dass bei jeder Nervenreizung
komplexe lose Moleküle in enger verbundene einfachere Moleküle
zerfallen und dadurch die innere Molekulararbeit in äussere
übergeht. Die Theorie in ihrer Mannigfaltigkeit zu verfolgen, ist
hier nicht der Ort; uns genügt der Hinweis auf dieselbe, um auch
für die zweite Frage, die Frage nach der Art des Nerv-Muskel¬
vorgangs die Behauptung zu widerlegen, dass eine rein natur¬
wissenschaftliche Erklärung der Körperbewegung unmöglich sei.
Gerade nach den schnellen Fortschritten der Elektrophysiologie
wird die Neurochemie sich sehr entwickeln müssen, wenn sie den
Anforderungen gerecht werden will ; dass aber zur Erklärung der
Muskelzuckung bei Rindenreizung die Naturgesetze aus¬
reichen und kein Sprung ins Immaterielle nötig ist, darüber
kann schon heute kein physiologischer Chemiker im Zweifel sein.
Wir dürfen freilich nicht vergessen, dass die beiden bisher
betrachteten Fragen die einfachsten des Rätselkomplexes sind
und daher diejenigen, deren Lösbarkeit am wenigsten in neuerer
Zeit bestritten. Wir kommen im Verfolg des Problems nun
zu der sich weiter ergebenden Frage : wie im normalen Leben
solche, Muskelkontraktion auslösende Hirnreizung zu stände
kommen kann. Offenbar liegt hierin, vom naturwissenschaft¬
lichen Standpunkt betrachtet, das Problem der Spontaneität.
Das, was wir dem Willen als Freiheit prädizieren, ist,
materialistisch gedacht, nur unsere Unfähigkeit, zu erklären,
’) Hermann: Allg. Nervenphysiologie, in Hermanns Handbuch.
Bd. II. 1. S. 191.