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Moosblättern, kleine Schnitte aus der Epidermis der Wasserblätter
gewisser Pflanzen sogar Wochen lang am Lehen.1) Andererseits
wird durchaus nicht jede Bedingungsänderung das Zellenleben
beeinflussen, denn die Zelle verhält sich niemals bloß passiv gegen¬
über ihrer Umgebung; speziell ihr Ernährungsmaterial „wählt“ sie
sich selbst aus2) und kann somit bei bedeutenden Einflußschwankungen
in ihren der Mittellage angepaßten Eigentümlichkeiten erhalten bleiben.
Die vollendete Anpassung selbst ist das Resultat phylogenetischer
Selektion, und da sie mithin durchweg die unerklärten Vererbungs¬
vorgänge voraussetzt, ist sie einer wirklichen Kausalerklärung unzu¬
gänglich. Nehmen wir aber den Vererbungsfaktor als gegebene
Thatsache, so bleiben für die hypothetische Erklärung der Zell¬
anpassung noch zwei Wege offen. Die irgendwie modifizierten
Zellen können nämlich erhalten geblieben sein, sich vermehrt und
die Modifikationen gehäuft haben, entweder weil jene Eigentümlich¬
keiten dem ganzen Organismus nützlich waren, dessen Erhaltung
indirekt die Zellenerhaltung bedingte, oder weil die Einrichtungen
direkt der Zelle selbst nützlich waren. Nur der erste Fall liegt
im Bereich des eigentlichen Darwinismus, sicher ist aber der andere
nicht seltener.
Wenn z. B. die cilientragende Zelle im Wirbeltiersamen bei
-(- 12° die untere Temperaturgrenze hat, die der Kaltblüter erst
bei — 2,5° in die Kältestarre tritt3), so werden wir doch nicht
den hypothetischen Vorgang uns so denken, daß alle Kaltblüter,
deren Cilien bei der Frostgrenze matter fungierten, langsam ab¬
starben und schließlich nur solche mit angepaßten Cilien übrig
blieben; vielmehr werden wir annehmen dürfen, daß innerhalb der
Zellen die Elemente sich ausbreiteten, welche die Kälte überstanden
und darauf unter den Zellen beim einzelnen Tier nur die erhalten
blieben und sich vermehrten, welche so der Kälte angepaßt waren.
— Wenn der Protoplasmafuß der Epithelzelle verbreitert und mit
feinen Zacken versehen ist, um auf den bindegewebigen Substrat
festzusitzen4), so werden wir wieder nicht von einer Selektion der
Individuen, sondern von Selektion der Zellenelemente und Zellen
sprechen. Ebenso, wenn wir Zellen finden, die mit modifizierter
Membran umgeben, um sich gegen gewisse Einflüsse zu schützen,
x) Frank, Pflanzenkrankheiten. S. 340.
2) Virchow, Cellularpathologie. IV. Aufl. S. 370.
3) Wundt, Physiologie. IV. Aufl. S. 129.
4) Krause, Allgemeine Anatomie. 8. 24.