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Das Tonsystem der Griechen.
Das griechische Tonsystem, dessen weitere Betrachtung später
folgen wird, war — wenn auch in modificirter Form, wie in
den sogenannten Kirchentonarten — für die Musik bis weit in das
Mittelalter hinein das allein geltende. Man kannte kein anderes.
So lange man über einstimmigen Gesang und ein diesen im
Einklänge oder in vereinzelten Accorden begleitendes Instrumental¬
spiel nicht hinausgekommen war, bestand keine Nöthigung, von
diesem Systeme abzugehen.
Erst gegen das Ende des 16. Jahrhunderts wurde die akustische
Terz des Archytas wieder entdeckt und zum Ausgangspunkte eines
neuen Systems genommen, welches für die weitere Ausbildung der
Musik dieselbe Wichtigkeit erlangte, wie die gleichzeitige Entdeckung:
dass die Höhe eines Tones von der Zahl der Schwingungen des
ihn erzeugenden Körpers abhängt, für die Akustik.
Diese Terz, deren Nichtkenntniss der Hauptgrund gewesen
sein soll, dass die Griechen es zu keinem Dreiklang und sonach zu
keiner Harmonie brachten, war allerdings geeignet, das Auge durch
die gegenüber der griechischen Terz (S3/64) ganz unvergleichliche
Einfachheit ihres Zahlenverhältnisses (s/4) und das Ohr durch ihren
ruhigen Wohllaut zu bestechen, dessen in den consonanten Differenz¬
tönen beruhenden Grund man damals freilich nicht kannte.1)
Wenn die Griechen überhaupt mehr Bedürfniss nach harmoni¬
scher (d. i. mehrstimmiger) Musik empfunden hätten, als sie —
wenigstens nach den auf uns überkommenen wenigen Musikstücken
und vielen theoretischen Schriften zu schliessen — gehabt zu haben
scheinen, so würde die von den Pythagoräern als Dissonanz in Acht
x) Vom Standpunkte der Combinationstöne gebührt der grossen Sexte
als Consonanz der Vorrang vor der grossen Terz, denn der Summationston
der Terz ist nicht harmonisch, während es beide Combinationstöne der
Sexte sind. — Man vergleiche die Tafel, Beilage XIV.