Das Ohr, wie und was es hört.
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zu schliessen hätten, wird in der Kinderseele der Sinn für Harmonie
geweckt und der Grund zum musikalischen Denken gelegt.
Man möchte es kaum glauben, in welch’ verhältnissmässig geringem
Maasse das Tonvorstellungsvermögen in der ungeheueren Menge der
heute Musiktreibenden entwickelt ist. Der Grund beruht darin, dass
diese Menge ihr musikalisches Können lediglich am Claviere erworben
hat, für den Clavierspieler aber nicht, wie für den Sänger oder
Geiger, die Nöthigung besteht, die Töne in richtiger Höhe selbst zu
erzeugen und so Tonhöhen- und Intervallensinn, diese Grundbedin¬
gungen des musikalischen Denkens, zu erwerben. —
Zur Vervollständigung des Bildes von der Leistungsfähigkeit
des Ohres sei noch Folgendes bemerkt. Das Ohr, zumal das geübte,
ist im Stande, ausserordentlich geringe Tonhöhenunterschiede wahr¬
zunehmen. So unterscheidet es noch Töne, deren Schwingungen sich
wie 1000 zu 1001 verhalten, deren Differenz also dem 65. Theile
eines Halbtones gleichkommt, welches Verhältniss praktisch dargestellt
wird, wenn man den, eine Monochordsaite auf die Länge eines Meters
abgrenzenden Steg um einen Millimeter, d. h. auf 1001 Millimeter
verschiebt. Ebenso ist das Ohr im Wahrnehmen kleiner Zeitgrössen
ausserordentlich geschickt und dem Auge hierin weit überlegen.
Während dieses 24 in der Secunde aufeinanderfolgende Lichterschei¬
nungen nicht mehr als getrennte zu empfinden vermag, unterscheidet
das Ohr bis auf yi00 Secunde, ob die Schläge zweier Pendel zu¬
sammenfallen oder nicht. Hingegen ist es im Beurtheilen der Inten¬
sitäten von Klängen, zumal verschiedener Höhe, unsicher, und gleicht
hierin dem Auge, wenn dieses Entfernungen schätzen soll, die in der
Richtung der Sehaxe liegen.
Die Fülle und Mannigfaltigkeit dessen, was unser Ohr, zumal
das gebildete, im Hören zu leisten vermag, ist, wie Sie aus dem
bisher Vorgetragenen erkennen konnten, eine so reiche, dass es der
Bewunderung seines Vermögens kaum Eintrag thun dürfte, wenn Sie
erfahren, dass es eine Musik gibt, die ausser Pythagoras, dem seine
Schüler diese Fähigkeit zuschrieben, noch keines Menschen Ohr ver¬
nommen haben dürfte, und auch schwerlich je vernehmen wird. Es
ist dies die Harmonie der Sphären, welcher zum Schlüsse eine
kurze Betrachtung zu widmen Sie vielleicht interessiren dürfte.
Die fast unendliche Vielheit und Mannigfaltigkeit der uns
umgebenden Schallquellen, wie die Erkenntniss, dass »wo Bewegung