G. Stumpf.
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[VI. Kongr. 314]
Scheidung für unseren Fall zu treffen. Erst dadurch kann die
Frage definitiv erledigt werden.
Wenn Révész gegen meine Herleitung aus den Verschmelzungs¬
erfahrungen die Tatsache ins Treffen führt, daß die Oktaventöne
schon zu einer Zeit, als es noch keine harmonische Musik gab, mit
dem gleichen Buchstaben oder Wort bezeichnet wurden, so würde
ich erwidern, daß zwar nicht harmonische Musik, aber Oktaven¬
parallelen zweifellos seit uralter Zeit, wenn Männer und Weiber zu¬
sammen sangen, gebraucht wurden und bei Naturvölkern heute noch
gebraucht werden. Und dies würde hinreichen, um meine Hypothese
zu stützen. Bemerkenswert bleibt es auch immer, daß die identische
Buchstabenbezeichnung für die Oktaventöne in Europa sich so spät
durchsetzte, und daß die systematische und definitive Einführung
dieser identischen Bezeichnungen hier mit den ersten Versuchen
eines systematischen Gebrauches simultaner Tonverbindungen zeit¬
lich ungefähr zusammenfällt (10. Jahrhundert)1).
Obgleich also Révész’ Beweisführung hier eine Lücke hat,
bin ich doch aus allgemeineren Gründen -— eben wegen der Un¬
durchführbarkeit der psychologischen Konstruktion — selbst seit
längerer Zeit der Meinung, daß die empiristische Deutungsweise sich
nicht halten läßt, daß wir es also bei dem, was allen (£s, ebenso
allen $)s usw. unter sich gemeinsam ist, mit einer primären Eigen¬
schaft der Tonempfindungen neben der Höhe zu tun haben2).
Erwünscht sind in dieser Hinsicht auch noch zuverlässige Beobachtungen an
musikbegabten Kindern. Pilar Osorio, die Stiefschwester des von Eichet und
mir untersuchten Pepito Arriola (von derselben Mutter), kannte als l1/2jähriges
Kind kein größeres Vergnügen, als auf dem Klavier Oktaven herauszusuchen. Als
ich davon hörte, schien es mir unglaublich, doch fand ich es durch eigene Wahr¬
nehmung bestätigt. Einem solchen Falle gegenüber sind empiristische Erklärungen
unwahrscheinlich genug. Auch der Hinweis auf die durch die gemeinsamen Ober¬
töne gegebene Ähnlichkeit dürfte nicht ausreichen. Bezweifeln könnte man aller¬
dings, ob überhaupt eine Ähnlichkeits- oder Identitätswahrnehmung der Grund
des Vergnügens war; es ließe sich denken, daß an solche Sukzessionen bei
musikalischen Kindern eine primäre, psychisch überhaupt nicht begründete An¬
nehmlichkeit (angenehme Gefühlsempfindung) geknüpft wäre. Aber angesichts
der unzweifelhaften Freude der Kinder am Wiedererkennen ist die obige Deutung-
weit wahrscheinlicher.
Auch schon aus dem öfters beobachteten Nachsingen vorgegebener Töne
ü Vgl. Job. Wolf, Handbuch der Notationskunde I (1913), 37ff.
2) Es empfiehlt sich, für die Bezeichnung der Qualitäten als solcher, wenn
von der Oktavenlage abgesehen werden soll, die deutschen Buchstaben zu gebrau¬
chen, wie dies auch Kévész auf meinen Vorschlag (vgl. auch schon Tonpsych. II,
388) getan hat.