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Alfred Guttmann.
[LXIII. 162]
Grenzgebieten hinweisen, einige prinzipielle methodologische
und begriffliche Unterscheidungen machen und für einige
neuere sowie eigene experimentelle Untersuchungen Nutz¬
anwendungen ziehen.
Das Bedenkliche in vielen Untersuchungen über den
Gesang beruht nicht zum geringsten in eben dieser Einseitig¬
keit, mit der solche Fragen behandelt zu werden pflegen ; das
zeigt sich u. a. in der Gegensätzlichkeit, mit der zwei Haupt¬
gruppen von Autoren sich gegenüberstehen : hier die ausüben¬
den Künstler, die Sänger und Lehrer, dort die untersuchenden
Wissenschaftler, in erster Linie die, zu denen die Künstler am
häufigsten in Beziehung treten, die Halsärzte, dann — seltener
— die Physiologen. Die ersteren fassen den Gesang als klang¬
liches Gesamtphänomen auf und suchen ihn mittels geschulten
Gehöres zu definieren, sie machen ihre Beobachtungen zunächst
am eigenen Lehrer, dann aber in der Hauptsache an sich
selbst, ehe sie ihre Erfahrungen und Theorien an Schülern
ausprobieren. Die anderen hingegen untersuchen fast aus-
schliefslich Versuchspersonen, an denen sie meist durch die
ihnen naheliegenden Experimente und mittels Betrachtung
der Stimmlippentätigkeit im Kehlkopfspiegel ihre Beobach¬
tungen machen ; an sich selbst solche Studien vorzunehmen,
hindert sie vor allem der Mangel an technischer Ausbildung
auf gesanglichem Gebiete. Beide Methoden haben ihre Nach¬
teile : die erste darum, weil sie einen völlig unkontrollierbaren
Faktor in Rechnung stellt, die Beobachtung der eigenen Stimme.
Kein Mensch kann sich eine Vorstellung davon machen, wie
seine eigene Stimme für alle übrigen Hörer klingt. Diese
hören die Stimme nämlich nur mittels der Luftleitung, der
Singende selbst hört sich zwar auch durch die Luftleitung,
aber aufserdem durch die Knochenleitung seines eigenen
Schädels, wo ja das perzipierende Ohr in nächster Nachbar¬
schaft des tongebenden Organs liegt. Ein altes, einfaches Ex¬
periment, das recht unbekannt ist, sei hier zur Demonstration
herangezogen. Wenn man einen Sänger einen schallleitenden
Gegenstand, beispielsweise ein Holzlineal, zwischen die
Zähne nehmen läfst, selbst in das andere Ende des Lineals
einbeifst und den Sänger einen Ton singen läfst, so bemerkt
man mit Überraschung, dafs der Ton ganz anders klingt, als