[LXIII. 161]
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Zur Psychophysik des Gesanges.
Von
Alfred Guttmann.1
Das Phänomen des Gesanges unterliegt vielen Betrachtungs¬
möglichkeiten. Die Frage nach dem Ursprung des Gesanges
hängt eng mit entwicklungsgeschichtlichen Problemen und mit
der Frage nach dem Ursprung der Musik überhaupt zusammen.
Einer anderen Seite gilt die physiologische Betrachtung in den
Bahnen, die Johannes Müllers geniale Experimente am
Leichenkehlkopf gewiesen haben. Eine weitere Seite des Pro¬
blems ist die ästhetische und musikpsychologische. Den Ge¬
sangspädagogen interessieren mehr die technischen Momente
im Stimmapparat.
Zahlreiche Zusammenhänge zwischen diesen verschiedenen
Grenzgebieten bestehen. Als ein Manko vieler dahin zielender
Betrachtungen und Untersuchungen habe ich es jedoch immer
empfunden, dafs die meisten Autoren nur eins der Grenz¬
gebiete genauer durch eigene Erfahrung kennen, über das
andere sich jedoch im allgemeinen nur oberflächlichere theore¬
tische Kenntnisse verschafft haben : die Musikästhetiker kennen
die Physiologie der Stimme nicht, den Physiologen gehen
musikgeschichtliche und gesangstechnische Kenntnisse ab, den
Pädagogen fehlt die feinere Kenntnis des Apparates, mit dem
sie arbeiten. Da ich selber über mehr als 20 jährige praktische
Erfahrungen auf gesangstechnischem Gebiete — als Sänger
sowohl wie als Dozent — verfüge und andererseits mich über
ein Dezennium mit musikwissenschaftlichen und musikgeschicht¬
lichen Studien sowie psychologischen und physiologischen
Untersuchungen über einige dieser Fragen beschäftigt habe,
möchte ich nun hier auf Zusammenhänge zwischen diesen
1 .Nach einem Vortrag auf dem V. Kongrefs für experimentelle
Psychologie (Berlin, 1912).