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[IV. Kongr.-Ber. 256]
Uber die Bedeutung ethnologischer Untersuchungen
für die Psychologie und Ästhetik der Tonkunst.1
Von
C. Stumpf und E. v. Hornbostel.
I. (Stumpf).
Es ist wohl schon in weiten Kreisen ruchbar geworden, dafs
man im Berliner Psychologischen Institut neben den fachlich¬
sachlichen Dingen gewisse Allotria treibt, indem ungezählte
Proben exotischer Tonkunst gesammelt werden, die den Ohren
des Europäers wenig erfreulich und seinem Geschmack fast un¬
verständlich sind. Mancher wird sich schon gefragt haben, in¬
wiefern diese Bestrebungen noch einen engeren Zusammenhang
mit der experimentellen Psychologie haben können. Ich möchte
deshalb die Gelegenheit ergreifen, in Verbindung mit meinem
Freunde v. Hornbostel Ihnen kurz an einigen Beispielen darzu¬
legen, dafs ein solcher Zusammenhang gleichwohl besteht, und
dafs wir über prinzipielle Fragen des Tongebietes, die wieder mit
allgemeineren psychologischen und ästhetischen Fragen in engster
Verbindung stehen, neue Aufschlüsse und neue Problemstellungen
teils schon erhalten haben, teils erwarten dürfen.
Erinnern wir uns, dafs ein Psychologe es war, der das erste
umfassende Werk über Ethnologie in deutscher Sprache geschaffen
hat: Theodor Waitz. Während Herbart die Psychologie nur
aus dem eigenen Bewufstsein herausholte und selbst da mehr
konstruierend als beobachtend vorging, hatte Waitz von vornherein
mehr Sinn für vielseitige und unbefangene Tatsachenforschung.
Der Tierpsychologie widmete er eine schöne Untersuchung, der
vergleichenden Völkerkunde seine „Anthropologie der Naturvölker“.
Das Werk erschien fast gleichzeitig mit Fechners Elementen der
Psychophysik, die Herbarts Bestrebungen in anderer Richtung
1 Aus dem Bericht über den 4. Kongrefs für experimentelle Psycho¬
logie, herausgegeben von F. Schumann, 1911.