[XVIII. 394] Maafsbestimmungen über die Reinheit consonanter Intervalle. 157
zwungen durch die Thatsachen, für die letztere Annahme; und
ich gestehe, dafs mir dieses, meinen ursprünglichen Anschau¬
ungen entgegengesetzte, Ergebnifs als das wichtigste dieser Unter¬
suchung erscheint, da es zu neuen wesentlichen Gesichtspunkten
hinführt.
Denn nun erwächst die Aufgabe, die Entstehung des Rein¬
heitsgefühls selbst zu erklären. Hierüber mufs eingehender im
Zusammenhang der musikalischen Gefühlslehre untersucht werden.
Vorläufig nur Folgendes. Das Reinheitsgefühl kann im Verlauf
des individuellen Lebens aufserordentlich gesteigert werden; aber
der Anlage nach scheint es angeboren zu sein. Dagegen ist
wieder eine Entwickelung dieser angeborenen Mitgift im Laufe
der Generationen anzunehmen, und hier allerdings dürfte, wenn
wir bis auf die erste Entstehung zurückgehen, das Causalverhält-
nifs zwischen Urtheil und Gefühl das umgekehrte sein, also das
Urtheil das Primäre und das Gefühl die Folge davon. Es läfst
sich denken, dafs zuerst gröbere Abweichungen von dem reinen
Intervall in der That als Abweichungen von der bezüglichen
Verschmelzungsstufe Wahrgenommen wurden, und dafs
diese rein theoretische Wahrnehmung auf Grund des Verschmel¬
zungsmerkmals das Bedürfnifs erzeugte, den einen der beiden
Töne um soviel zu verschieben, bis die zunächstliegende aus¬
gesprochene Verschmelzungsstufe (der nächstliegende Gipfel der
Verschmelzungscurve, Tonpsych. II, 176) erreicht war; oder*
was dasselbe ist : dafs die Abweichung von diesem Punkte
eben als Abweichung vom Normalen aufgefafst wurde.
Wenn wir dabei von einem „Bedürfnifs“ nach einem „Normalen“
reden, ist allerdings vorausgesetzt, dafs in den bezüglichen Ver¬
schmelzungsstufen selbst schon irgend etwas Reizvolles lag ; und
dies setzt wieder das Vorhandensein eines gewissen Intervall¬
gefühles voraus. Aber wenn auch nur beispielsweise die Einheit¬
lichkeit der Octave als etwas Merkwürdiges empfunden wurde, so
war schon ein solcher Reiz gegeben.
Jenachdem es sich nun um eine Abweichung nach der Höhe
oder Tiefe handelte, jenachdem das Intervall vergröfsert oder
verkleinert werden mufste, um die nächstliegende wohlmarkirte
Verschmelzungsstufe zu erreichen, erschien die Abweichung als ein
Zurückbleiben oder ein Hinausgehen über das Normale*
woran sich dann leicht die Association der Schärfe, der Ueber-
treibung oder der Mattigkeit, Unzulänglichkeit, Schalheit o. dg].